Nackig

Zu keiner anderen Zeit in meinem Leben fühle ich mich transparenter, ausgefragter aber auch verletzlicher, als in den Zeiten in denen ich, wir ein Kind erwarten. Momentan habe ich nur noch das Gefühl eine riesige, runde Zielscheibe zu sein und für jedermann mein Leben frei zur Diskussion zu stellen. Sicherlich tun da auch meine Hormone ihren Teil zu beitragen, aber es ist ein sehr kleiner Beitrag. Ich frage mich mit jeder weiteren Woche, wo ich nur noch mehr dickes Fell kaufen soll, obs das irgendwo gibt oder ob jemand meine Portion geklaut hat.

Am zermürbendsten ist, dass es immer die gleichen Fragen oder Vorurteile sind. Nicht nur von Fremden! Auch Familie und Freunde können die Vorfreude mindern und mich verletzen. Niemand mit zwei Kindern würde sich jemals so einen Fragenkatalog oder Urteile in der Hülle und Fülle anhören müssen. Es scheint ein mir unbekanntes Gesetz zu sein, wie das Bloggen im Netz, haste mehr als zwei Kinder, musste dir das eben anhören. Mich bedrückt das sehr. Ich hab gar keine Worte mehr dafür wie sehr sich das in mir anhäuft und mich bedrückt. Diese Grenzüberschreitungen gehen einfach zu weit im Moment. Zum Beispiel diverse Hinweise, es gäbe da auch Verhütungsmittel. Oder witzige Fragen an den Mann, ob ich so gern schwanger wäre… Oder aber Sätze oder Blicke wie „Warum kriegt man dann _so viele_ Kinder, wenn man…“ mal meckert, „Selber Schuld, du _wolltest_ ja noch unbedingt dieses Kind, dann beschwer dich mal nicht, dass dir der Rücken weh tut/du heute müde bist/ das andere Kind gerade xyz/oder die Kinder im Dauerlauf krank sind!“, denn „Das hast du dir ja so ausgesucht!“ -Klar, mit zwei Kreuzchen im Wahlschein. Zwei Schritt zuviel. Gefühlt.

Der Mann fragte mich gestern Abend, ob ich schon darüber geschrieben hätte, warum wir noch ein Kind bekommen und ich dachte nur „Höh, wozu?!“ und fragte mich zeitgleich ob er tatsächlich eine Antwort darauf hätte. Dann fiel mir ein Text ein, den ich vor Wochen angefangen hatte zu schreiben, aber nie veröffentlich hatte:

„Gestern Abend habe ich eine Kurz- Doku über eine Grossfamilie mit neun Kindern gesehen, die mir zum einen ein so warmes Gefühl hinterlassen hat und mich zum andern sehr aufgewühlte.
Das warme Gefühl ist ganz einfach zu erklären. Abgesehen (von dieser sympathischen Familie im Film) von dem Wunder in meinem Bauch empfinde ich unsere fünf Streuner nicht als viele Kinder, das war so und das wird erst mal so bleiben. (Wo Großfamilie bei mir anfängt kann ich gar nicht sagen, sicherlich aber bei den anderen, nicht bei mir. Vielleicht bei acht Kindern? Ich kanns nicht beantworten. Wir sind einfach nur wir mit unseren Kindern, ohne Stempel. Was nicht ausschließt, dass ich merke, dass wir auf andere Dritte eine ganz „besondere“ Wirkung haben) Deswegen setze ich es oft in Zeichen, dieses _so_ viel. Und wenn ich es mir zutrauen würde, wenn ich nur den Mut hätte in vielerlei Hinsicht (sicherlich nüchtern auch nervlich und finanziell), aber in erster Linie fürs Herz, könnte ich mir ein Leben neben Anton im Arm mit zwei weiteren Kindern durch aus vorstellen. Nichts wäre grossartiger und toller für mich. Wenn…
Aber noch sorge ich mich um Anton in mir, freue mich täglich über seinen Tanz, wie auf hoher See bewegt er sich in meinem Bauch und zähle die Tage bis ich ihn hoffentlich gesund und munter im Arm halten kann.
Statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Fehlgeburt erhöht nach drei hintereinander folgenden Fehlgeburten, auch wenn Emil sich dann auf den Weg gemacht hatte. Es versetzt mir einen Stich im Herzen, im Krankenhaus im Notfall anzugeben, dass es bereits meine neunte Schwangerschaft ist. Und all das, obwohl wir das Glück hatten nicht auf künstliche Befruchtung oder andere Hilfe einer Kinderwunschpraxis „angewiesen“ zu sein. Alles Dinge, die wir im Kopf hatten nach den drei Verlusten, während der Zeit der genetischen Beratung.
Für mich nun, in meiner Situation sind sie pures Glück diese Kinder. Und ich bete wirklich, dass Anton auch gut den Weg zu uns findet. Ich liebe ihn so sehr, wir alle.
Und deswegen, wenn Dritte über uns reden, zwischen „nun ist aber Schluss“ und „Was tut ihr euch da nur an?!“ sind diese Sätze so surreal. Können nicht ernst gemeint sein. Anton ist kein dritter Fernseher, kein Ding, kein Etwas, kein Möbelstück, das bei nicht gefallen wieder beim Schweden zurück gegeben werden kann, er ist unser (Wunsch-) Kind. Und wird herbei gesehnt, geliebt. Ich krieg das im Kopf gar nicht zusammen. Und das hat nichts damit zu tun, ob das _viele_ Kinderhaben nicht jeder versteht oder auch toll finden muss…“

Es geht um diese meine persönliche Grenze. Privatsphäre. Es mir zugestehen zurechnungsfähig zu sein, dass ich ein Leben schön finden kann, das niemand anders mögen muss. Das Vertrauen meinen Kindern ein gutes Leben ermöglichen zu können, auch wenn ich ihnen nicht die Wohnung, zum Auto, zum Studium spendieren werde können.

Alles wird bewertet. Zu erst einmal das Geschlecht „Ihr könnt wohl nur noch Jungs.“ Dann wird das Tochterkind bedauert, das glaubhaft versucht zu versichern, wie egal ihr das eigentlich ist.

Stufe 2 ist dann schon oft die Frage – ich bin im dritten Trimester schwanger- ob dann jetzt Schluss sei oder wir (etwa) noch mehr Kinder wollen. Das kann zugegeben je nach Gesprächspartner eine sehr schöne oder eine sehr unangenehme Unterhaltung werden.
Und weil es Sie brennend interessiert: keine Ahnung. Ich würde erstmal sehr gern dieses Kind auf die Welt bringen. Und wenn ich nicht so eine Angst hätte eine weitere Fehlgeburt oder gar mehrere zu erleben, wäre ich bestimmt freudiger am Planen. Da wäre auch noch die Frage nach den Finanzen. Je nach Anspruch sicherlich, aber Kinder kosten Geld, Nerven und brauchen Platz.

Was uns direkt zur Stufe 3 führt: „Wo schläft dann das neue Baby?!“ oder auch „Zieht ihr jetzt um?!“
Wo wird so ein Neugeborenes schlafen? Bei uns. Da wo Emil auch schläft, nur das er es mittlerweile größtenteils (toitoitoi) in seinem Bett tut. Und wenn wir etwas Geld angespart haben sollten irgendwann mal demnächst, würde ich ein Bunk bed (eine Art Etagenbett) für vier Jungs in einem Zimmer bauen lassen. Was prompt oft zu Gesichtsentgleisungen führt.
Das Leben von armen Leuten: vier Kinder müssen in einem Zimmer schlafen- ungeheuerlich. Fakt ist die beiden Großen behalten ihre Einzelzimmer. Wir Eltern könnten hausintern in den Keller umziehen und ein Zimmer frei machen, aber all das hat Zeit. Und haben Sie schon mal fremden oder weniger fremden Menschen erklärt wo genau sie wie mit wem schlafen?- Nein? Ich darf das andauernd.

Was ich bräuchte, wirklich bräuchte -so langsam- ist mehr Stauraum in der Küche. Ich brauche mehr Töpfe, größere Töpfe, aber all das wächst. Ganz langsam. Man hat uns nicht einfach von heute auf morgen fünf Kinder vor die Türe gestellt. Wir wachsen da hinein.

Ich kann verstehen, dass das vielleicht spannend ist von Außen, weil es eben doch nicht die Norm ist. Und ich kann Ihnen allen da draußen versichern, dass ich keine hysterische Kuh bin. Nein, ich rede auffallend viel und gern (auch über meine Kinder)- aber ich mag nicht gern nur noch über meinen Kinderwunsch sprechen, von der Zukunft fantasieren und ob ich meinen Kindern auch genug bieten kann. Man mag mir an dieser Stelle zugestehen, dass ich noch durchaus in der Lage bin, so unterscheiden, wo ein Gespräch hin geht und wie ein Satz (zumal wenn ich die Person schon lange kenne) gemeint ist. Und selbstverständlich haben wir auch ganz tolle und liebevolle Menschen um uns herum, die sich aufrichtig mit uns freuen und aufgeregt sind.

Doch die wenigsten Menschen -wage ich zu behaupten- müssen sich wahrscheinlich nackig machen und anderen erklären wie und wann und womit sie ihre Kinder später unterstützen zu gedenken, immerzu erklären, dass man doch auch glücklich sein kann mit (mehreren) Kindern. Ob man ein lebenswertes Leben hat. Ob der Name wirklich sein muss. Wie man sich generell dieses oder jenes vorgestellt hat. Das fordert gerade zu viel Kraft. Und ganz unter uns, das ist eines der allerbesten Gründe eine Schwangerschaft zu verstecken bis das Kind da ist, weil diese ganzen negativ belastenden Gedanken können einfach nicht gut sein für ein ungeborenes Kind.

Hinzu kommen natürlich auch viele mich selbst aufwühlende eigene Gedanken, wenn Freunde zu Besuch sind zum Beispiel- „Sind die Kinder zu laut?!“, „Bin ich die Einzige, die immerzu ihre Kinder auf Etwas anspricht?“, „Und wieder springe ich auf, weil eines meiner Kinder…“ Viel davon ist simple Mathematik- mehr Kinder, mehr Möglichkeiten. Aber ich merke dann hin und wieder auch, dass es in ein Wertesystem abrutscht und manchmal wäre ich gern eine unsichtbare Mutter wie die breite Masse, dann fehlt mir dieses „normal“ sein und das sind dann Momente in denen ich mich nicht nach Großfamilie fühle, sondern nur „anders“ und „beobachtet“.

Diesen äußerst emotionalen Artikel mag ich schließen mit einer unglaublich schönen Anekdote aus dieser Woche.
Nachdem wir am Morgen an der Bushaltestelle von einem älteren Kind ausgefragt wurden, wo und wie und überhaupt „Alter, boah, krass, fünf Brüder hast du dann…“ plapperte die Tochter beim Mittag von weiteren Geschwisterkindern. Ich drehte mich um und sagte ganz liebevoll zu ihr: „Zoe, im ernst?! Du willst dann noch mehr Geschwister? Sogar und obwohl dich andere Kinder doof von der Seite anreden? Nervt dich das nicht?“ und sie sagte mit einer Liebe im Herzen und einer Selbstständigkeit auf der Zunge: „Wieso? Das ist doch etwas, auf das man stolz sein kann!“ – Wenn es nicht schon mein Kind wäre, ich hätte es sofort adoptieren wollen! <3

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