Versagensgefühle einer Mutter

Alles begann letztes Jahr im Sommer, ich saß am Frühstückstisch an der Ostsee, Emil lächelte mich an und ich wunderte mich über die Verfärbung an seinen Zähnen. Wann hatte ich ihn das letzte Mal so angesehen? War ich verrückt geworden? Sagt das nicht schon alles? Ich sorgte mich und besuchte gleich nachdem wir zu Hause waren einen Kinderarzt fragte ihn nach seiner Meinung, aber er zuckte nur mit den Schultern, nuschelte was von „wisse nicht genau“ und schickte mich zum Zahnarzt. Da wir wegen Noah sowieso ständig beim Zahnarzt waren- es war grad die Zeit der angeschlagenen Frontzähne- setzte ich mein Kind völlig unvoreingenommen auf den Stuhl, oder probierte es eher, denn Emil war gerade mal ein Jahr alt und wollte das auf gar keinen Fall. Wie durch Nebel hörte ich nur die Worte „Karies“, „schnell“, „Vollnarkose“.
Den ganzen Weg nach Haus weinte ich. Rief Nils an und weinte. Und weinte. Und in meinem Kopf drehte sich alles. Das vorherrschende Gefühl war Angst. Emil war erst ein Jahr alt geworden und Vollnarkose bei uns in der Vorstadt? Ohne Kinderklinik? Es drehte sich mir der Magen um bei dem Gedanken. Also fing ich an zu recherchieren. Ich besuchte drei weitere Kinderzahnärzte und holte weitere Meinungen ein. Sie sagten in etwa alle das Gleiche. Karies. Muttermilch wäre Schuld, wir sollten aufhören zu stillen. Sofort. Weil Emil schon so groß war, weil er nun schon Karies hatte, weil es sich anbot und die erste Ärztin vorgeschlagen hatte, war der erste Schritt ein Abbrechen des Einschlafstillen. Er wurde nun im Kinderwagen geschuckelt und hatte die ersten Stunden im Schlaf eine saubere Mundflora, das funktionierte ganz gut. Durch die Schwangerschaft mit Anton und der Einnahme des Utrogests stillte ich während eines Magendarm- Infekts dann endgültig im Dezember ab und hatte es mit Emil immerhin auf beinahe eineinhalb Jahre Stillen geschafft.
Nach der Diagnose hatten wir begonnen inzwischen vier Mal am Tag zu Putzen, um zu verhindern, dass das Karies weiter ausbricht, quasi fast nach jeder Mahlzeit, was sich schwierig gestaltete, weil Emil wie Ben immerzu essen konnte.
Die Aussagen der Kinderzahnärzte unterschieden sich nur darin, dass mir alle drei letzten dazu rieten auf jeden Fall zu warten bis er zwei Jahre wäre. Es hätte Zwischenfälle in der Anästhesie gegeben in der Vergangenheit und nun sei man halt sehr vorsichtig geworden. Ich hatte letzten Endes eine Praxis in München Schwabing, nur etwas mehr als einen Kilometer entfernt vom Schwabinger Kinderklinikum gefunden. Ich wollte maximale Sicherheit für den Fall der Fälle, aber auch dort hieß es: Warten. Also schrubbten wir weiter und warteten. Denn in der Zahnklinik werden nur kranke und behinderte Kinder behandelt, alle anderen müssen sich in den privaten Praxen behandeln lassen.
Jetzt war es soweit, ich wollte gern noch ausnutzen, dass Anton nicht geboren ist und wir uns voll und ganz Emil widmen könnten. Die Zahnärztin hatte es schon erwähnt beim Vorgespräch, es könnte im allerschlimmsten Fall sein, dass die Zähne so entzündet seien, dass man sie ziehen müsste. Ich betete. Ich betete und wünschte und hoffte, mir würden weitere Zähne ausfallen, nur mein Kind bliebe verschont.
Gestern brachten wir also die großen Geschwister zu einer lieben Freundin und fuhren (Oma, Papa und Mama) in die Innenstadt. Um 8.30Uhr sollten wir nüchtern da sein. Eine Stunde später erst war es bei uns soweit, Emil bekam einen Saft und Salbe und Pflaster auf seine Venen, „damit sie schlafen“. Nils hielt Emil dann fest und davon ab sich zu verletzen, denn recht schnell wurde er müde und torkelig. Er brachte ihn dann auch auf die Liege, als es soweit war, man legte Emil die Maske auf und er wehrte sich noch einen Moment weinend, weil alles ihm zuviel war. Ich stand abseits und schluckte Tränen herunter. Als er schlief, wurde eine Röntgenaufnahme gemacht, die im wachen Zustand unmöglich gewesen wäre, dort sah man dann eine kleine Stelle zwischen den Backenzähnen und eine kleine Stelle unten an den vorderen Schneidezähnen, die Backenzähne wurden dann versiegelt und der andere vordere untere Schneidezahn hat einen angegriffenen Zahnschmelz, auf den müssten wir achten, da gab es noch nichts zu tun. Das Schlimmste kam zum Schluss, ich muss einmal tief einatmen bevor ich es aufschreibe, man musste ihm die zwei rechten oberen Schneidezähne ziehen.
Was bleibt dazu zu sagen? Ich sitze seitdem in einem Loch. Und fühle mich da sogar deplatziert, weil unser Kind, der Mensch ist, der all das erleben und ertragen muss. Ich fühle mich mehr als verantwortlich dafür. Ich gehe alles immer und immer wieder durch. In Gedanken. Wer mich kennt, weiß wie sehr mir noch immer dieses halbe Jahr arbeiten als Tagesmutter nachhängt. Genau die Zeit, in der er Karies entwickelt haben muss. Hatte ich mich also endgültig übernommen, mehr mein Haus geputzt, als die Zähne meines Kindes, mich mehr um zwei andere Kleinkinder gekümmert, als um die kleinen Zähnchen meines Babysohnes? Dieses Gefühl geht nicht weg. Die eine Zahnarzthelferin gestern liess keinen Zweifel daran, was man von Menschen wie uns hält, zwar sagte sie, so sei es eben, ihre Nichte hätte alle vier oberen Frontzähne gezogen bekommen, aber „da wäre ihre Schwägerin Schuld dran gewesen“. Keinen Saft sollen wir den Kind geben, sagte die Zahnärztin, dabei ist das mit der Ernährung und den Zähnen seit Jahren unsere Baustelle, will heißen wir achten sehr darauf, was die Kinder wann essen und trinken. Emil hat eine olle Wasserflasche für den Tag, mehr nicht, wir putzten oft und es reichte nicht, um noch mehr zu verhindern.
Ist er uns durch die Lappen gegangen? Er bekam mit fünf Monaten die ersten Zähne, innerhalb eines halben Jahres hat er Karies entwickelt- in seiner Farbe nicht schwarz wie man sich das vorstellt, sondern braunrötlich. Wir hätten ihn gleich mit einem Jahr behandeln können, aber er war zu jung hieß es, außerdem bestand die große Gefahr, dass er ein weiteres Mal in Narkose muss, weil nun schon einmal die Bakterien in seinen Mund gelangt waren, aber wären sie dann zu retten gewesen die beiden Zähnchen?
Es ist ein bißchen wie immer in meinem Leben, ich wusste immer, was Eltern und Kinder erwartet, Karies sollte vermieden werden, deswegen quälten wir Zoe von Anfang an so sehr, ob sie wollte oder nicht und hatten kein Verständnis für Eltern, die ihr Kind entscheiden ließen, nun sitzen wir genau da. „Putzen sie auch mal nach!“ sagt die Zahnärztin uns gegenüber, die die großen Kinder behandelt. Und ich sage, dass wir morgens und abends nach wie vor noch selbst Putzen. Mittlerweile regelmässig mit Zahnseide und Mundspülung. Aber es bleibt unsere Baustelle. Wir sind nur so streng, weil wir Eltern beide eine schlechte Zahnsubstanz haben. Mir wurden selbst früh schon zwei Zähne gezogen, ich habe zwei Brücken und diverse fiese andere Geschichten erlebt, aber ich war da immerhin schon über 20. Nicht nicht mal 2 Jahre.
Als ich gestern Abend das zweite Mal in Katzenkotze getreten war, Nils grad mit Emil draußen war, damit er einnickt, nachdem der arme kleine Kerl noch in eine Biene getreten war, alle anderen schliefen, weinte ich hemmungslos und ließ alles raus, all die Bilder, die nie mehr weggehen werden, all die Schuldgefühle, die herausbrachen, wegen all dem, was er jetzt hat durchmachen müssen. Und ich kann nichts tun, nichts mehr ändern, ich konnte ihn nicht beschützen, ich hätte mehr tun müssen! Immer wenn ich unseren Sohn ansehe, er lächelt, wird da dieses Gefühl sein. Das gleiche Gefühl wie wenn ich Bens Narbe im Gesicht sehe, unter der Nase, als ich damals abends hektisch rumwuselte und putzte und die Schreibtischplastikunterlage die Treppe runterrutschte, direkt in das Gesicht des Krabbelkindes, (die ich danach wegwarf) Gott sei Dank nicht in seine Auge, wie die Kinderärztin feststellte. Sachen, die man nie mehr gut machen kann.
Man erwartet diese Kinder so heißersehnt, beschützt sie Monate lang im Bauch und das Schlimmste, was dann passieren kann, wenn sie auf der Welt sind, ist das man sie verletzt…

Kommentare deaktiviert für Versagensgefühle einer Mutter