Von freien Radikalen

Letzte Woche Freitag, nach beinahe zwei Wochen Kranksein von uns Eltern, veränderte sich mein Leben von Grund auf: Emil stieg nicht mehr in den Kinderwagen.

Eigentlich dachte ich schon länger, dass es Zeit wäre. Das Kleinkind sendete eindeutige Signale des Nichtgefallens. Und vor drei Jahren, als ich mit Emil schwanger wurde und der Kinderwagen ein zweites Mal in meinem Leben in meinem Bauch gelandet war, in Folge dessen auch ein Hämatom, landete der Kinderwagen unverzüglich auf dem Abstellgleis und Ben musste fortan mit seinen zwei Jahren und zwei Monaten jede Strecke laufen. Emil ist nun sogar drei Monate älter, es war so schrecklich bequem ihn dort hinein zu setzen und lange Strecken zu laufen tat mir so gut. Die Zeiten sind vorbei. Nichts mehr mit Kopf durch pusten lassen. Er möchte laufen, alles alleine machen: „Nein, ich mach das!“

Bereits beim Loskommen ist die Sache total aufregend. Mein Herzschlag vervielfacht sich bis wir überhaupt dazu kommen uns mit der Welt da draussen auseinander zu setzen. Ich plane also extra viel Zeit ein und versuche das Anziehen mit Schneehose, Strickjacke, Jacke, Schal, Mütze, Socken und Winterstiefeln so schmackhaft wie möglich zu machen. Nebenher weint oder motzelt das Baby, das lieber jetzt als gleich in die Trage möchte oder sich darin sitzend befindet, dass ihm zu diesem Zeitpunkt viel zu wenig Aktivität geboten wird- Stichwort laufen und schuckeln, obwohl es mir längst viel zu viel Betriebsamkeit ist- und ich sollte mich zudem ebenfalls anziehen, weil es draussen echt kalt ist. Zwischendurch denke ich an andere Mütter, die drei Kleinkinder anziehen müssen oder erinnere mich an früher, als zum Beispiel die „grossen“ Babygeschwister 1 1/2 Jahre alt waren, jedoch saßen diese nach dem Ankleiden wenigstens im Kinderwagen.

In einem letztem Aufbegehren probiert Emil das Ganze noch auf die Oma abzuwälzen, soll die doch bittedanke Ben vom Kindergarten abholen und ausserdem: „Bus fahren dürfen wir heute leider nicht!“

Kaum sind wir aus der Tür, versuchen wir die Haltestelle anzupeilen, nicht die Grünflächen mit Hundekot oder wenigstens Dinge rasch von der Strasse aufzulesen, nicht versunken minutenlang zu betrachten, denn unsere Zeit ist trotz eines Sicherheitspolsters durch geplant. Der Bus fährt in die Altstadt, da angekommen müssen wir zum KiGa laufen und dann mit zwei Bussen heimwärts, um von dort retour zur Haltestelle zu flitzen, an der die Schulkinder ankommen.

Was so kurz geschrieben ist, ist in Wahrheit ein lustiges Ringelrein mit frei laufendem Zweijährigen um die Bushaltestelle herum und dem Versuch ihn von der Strasse fern zu halten. Minuten können einem da als Mutter schon einmal wie Stunden vorkommen. Bei Einfahrt des sehnlichst erwarteten Objekts versuchen möglichst zügig in eben dieses Einsteigen. Das Kind abhalten den Knopf zu drücken und zeitgleich mental darauf vorbereiten, dass wir gleich wieder aussteigen, um den Bruder abholen. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass wir hinten und nicht vorn aussteigen werden, denn das war heute Knackpunkt Nr. 1. Also trug ich neben neun Kilo Baby, zwölf bis dreizehn Kilo Kleinkind aus dem Bus. Darüber hinaus nächstes Abenteuer: Einkaufen. Der Lieblingsschwägerin gerade erzählt das ginge zur Zeit nicht, musste heute gehen und klappte super, weil Emil mit Milchtragen voll in den Einkauf integriert war. Somit umschifften wir den schlafenden Weihnachtsmarkt, den wir tags zuvor auf dem Weg zum Kindergarten genauestens inspiziert hatten. Am gestrigen Tage noch etwas anderes gelernt, wir müssen nicht unten, sondern oben den Berg runter gehen- sonst unversöhnliches das Weitergehen verweigerndes Kleinkind und erreichten so knapp rechtzeitig erst den Kindergarten und wenig später die Bushaltestelle direkt davor. Aufs Neue das Kind mental auf den Einstieg ins rollende Gefährt vorbereiten, dabei hilft manchmal Gummigetier, manchmal nichts. Abermals das Knöpfchen drücken und zweiter Ausstieg unserer Reise. Glück gehabt, hat gar nicht so lange gedauert. Angespanntes Warten auf einen knapp folgendem Anschlussbus. Den zwei laufenden Kindern wird natürlich trotzdem spontan langweilig und fad, sie schwärmen aus. Das dritte Kind schlummert derweil in der Trage oder schaut sich das alles sehr interessiert an, die Mutter stromert inzwischen nervös zwischen Bordsteinkante und Kindern an Schaufenstern. Plötzlich kommt Bewegung ins Geschehen, die Mutter hüpft aufgeregt auf und ab: „Der Bus kommt! Der Bus kommt!“ Die Kinder setzen sich schnell oder langsam in Bewegung und Muttern zieht das grössere Kind nur ein kleines Stück von der Strasse weg, während der Bus einfährt. Beide Steigen ein, manchmal Emil etwas zögerlich, der Busfahrer guckt vielleicht schon genervt. Puh. Endspurt. Das Kleinkind hat sich die Plätze hinter dem Fahrer ausgesucht. Soweit so gut, bis der Mutter auffällt, dass es versucht sich auf den Platz zum Gang hinzusetzen was es ihr unmöglich macht ebenfalls mit Baby Platz zu nehmen, also spricht sie mit Engelszungen aufs Kind ein, bis „Kling“, der grosse Bruder hat zuerst gedrückt, hoffentlich hat es der kleine nicht gemerkt, wir wieder aussteigen müssenkönnendürfen. Was grad ganz unpassend ist, weil das Kleinkind jetzt den Sitz erobert hat. Der nette Busfahrer öffnet uns sogar dir vordere Tür, nicht einmal das hilft, Emil mag augenblicklich nicht aussteigen. Also trägt die Mutter wiederholt Baby und Kleinkind behutsam und vorsichtig, dennoch weit genug von der Fahrbahn aus dem Bus. Auftritt: Gummibärchen. Wir können nach Hause gehen, können wir? Ja, allerdings ausschließlich rückwärts. Zu Hause angekommen ziehen wir alles bis aufs Baby aus, decken den Tisch, bereiten das Mittagessen vor, nur um uns 15 Minuten später erneut anzuziehen. Der Schulbus müsste gleich da sein, aber da: ein Blatt auf dem Boden und dort: ein Vogel. Endlich geht es an der Hand weiter, über die grosse Strasse und da fährt der Bus ein. Drei meiner Kinder steigen neben den anderen aus, wie erfreulich und zurück geht es über die Strasse heimwärts. Unverhofft wirft sich Emil auf den letzten Metern bodenwärts. Nein, er mag nicht mehr. Ich auch nicht, doch der Hunger siegt und bringt uns samt unseres kleinen Wettrennens ins Haus.

Es ist kurz nach 13Uhr, ich habe wirklich alle Kinder eingesammelt, bin total müde, jedoch wandere ich statt in mein kuscheliges Bett an den Herd und vollende das Mittagessen…

10 Kommentare

  • Katarina

    Jetzt sitz ich hier mit Tränen in den Augen, weil ich so häufig an dich denke und wie toll du das mit doppelt so vielen Kindern wuppst. Und dann sowas, aus dem Nichts.

    DANKE! *schnief*

  • Thomas

    …wie schön, wenn man sich in so manchen Dingen in ähnlicherweise wiederfindet :-)

    @Petra: was soll denn der blöde Kommentar dazu, echt überflüssig!

  • Emma

    Liebe „souffleurlos“,

    ich bewundere dich ehrlich für das, was du jeden Tag tust, unter erschwerten, autolosen Bedingungen. Mein Nervenkostüm würde dafür oft nicht reichen. Danke für die tollen, ehrlichen und humorvollen Einblicke in dein Leben.

    Emma

  • Ellie

    Haha nach diesem Text kann ich zum ersten Mal diese „Kinderleinen“ verstehen, die ich im Urlaub ein paarmal gesehen hab und auf den ersten Blick so grässlich fand ;-)
    Bewundernswert, diesen Stress jedesmal durchzustehen!

  • Theresa

    Ach toll, danke für diesen Alltagsbericht, ich hab mich so wiedergefunden, mit (noch) nicht einmal halb so vielen Kindern, sondern nur einem fast Vier- und fast Zweijährigen und dickem Hochschwangerbauch dran:) Ausgerechnet heute hab ich nämlich gedacht: Los, das Stück übern Weihnachtsmarkt und ein mittelgroßer dm-Einkauf schaffen wir ohne sperrigen Fahrradanhänger! …

    Ganz, ganz liebe Grüße (hier waren auch gerade über mehrere Wochen Mama und Papa abwechselnd krank, ich fühle mit dir und hoffe auf gesündere Zeiten!)!

    Theresa

  • kassiopeia

    @Katarina: <3

    @fishly: Habe herzlich(!) gelacht! :)

    @Thomas: :)

    @Emma: Ich bin gerührt. Sehr! <3

    @Ellie: :) Kinderleinen! Das ist die Lösung! :)

    @Therasa: DANKESCHÖN!

  • Isabella

    W a h n s i n n. Und obwohl ivh immer gern viele Kinder gehabt hätte, hab ich nun nur drei Kinder und mag mir gar nicht vorstellen wie stressig und anstrengend (wenn auch schön) das alles ist. Ich ziehe meinen Hut ganz ehrfürchtig vor dir und frag nicu was wir dann bittr zu jammern haben. Nichts. Allerliebste Grüße du meine Superheldin ♡♥