Begreifen
Vor einer Woche war ich einfach glücklich. Vor einer Woche war ich schwanger. Vor einer Woche
fühlte ich mein Kind tief in mir und eine Liebe und Fürsorge, Wärme und Geborgenheit aus mir
heraus.
Vor einer Woche begann das Unheil. Gefühlt, denn wann genau weiß niemand. Vor einer Woche
begann es für mich. Heute war also ein besonderer, ein besonders schmerzlicher Tag. Voller
Erinnern, Wegtreten im Erinnern. Vor sieben Tagen sah alles noch so anders aus. Heute war es, als
würde mich den ganzen Tag ein Schatten fest umklammert halten. Ich versuche einfach nur zu
verstehen, warum das passiert ist. Ich erinnere mich an jedes kleine Detail aus der letzten Woche,
diese letzten Tagen mit unserem Kind und es quälen mich Fragen über Fragen. Hätte ich es
verhindern können? Hätte ich es nicht einfach verhindern können? War es der Mark und Bein
erschütternde Zahnschmerz und die Entzündung, die mich nach München in die Notfallpraxis
führte? War es das zermürbende lange Warten, dass irgendwann nur noch in Angst endete und
mich so erbärmlich zittern ließ auf dem Stuhl? Waren es die Schmerzmittel? Das Röntgen? Der
ganze Stress? Die lange Heimfahrt? Der Fussweg durch die Kälte? Der Sturz kurz vor der Haustür?
Ich will es wissen, verstehen, begreifen, anfassen, aber dann auch wieder nicht. Ich will nicht,
ich kann nicht darüber nachdenken, dass ich hätte es wirklich verhindern können. Ich kann nicht
ertragen zu glauben, ich könnte (mit) Schuld daran sein, dass mein Kind nicht mehr hier ist, bei
uns, bei mir, vor es doch hingehört. Es ist als wäre es einfach aus mir rausgerissen worden.
Einfach so. Von jetzt auf gleich. Ohne Vorwarnung. Einfach entrissen. Und was bleibt ist ein kleines
Loch, eine Leere, die niemand und nichts einfach so füllen kann.
Ich wollte ein Kind. Wir wünschten uns noch ein Kind. Aber dann war eines da. Dieses Kind, unser
Herzkind. Unser Kind. Es ging nicht mehr um irgendein Kind, sondern nur im dieses. Dieses Kind
wollte ich nicht verlieren. Ich liebte es. Ich sprach mit diesem Kind, da war eine Verbindung zu ihm,
ich war ihm schon so nahe. Wir waren verbunden mit einander. Und diese Bindung ist einfach
abgerissen.
Ich finde das pure Leben, aber für diesen Schmerz keinen Trost. Mein Kind ist einfach weg. Und es
gibt fast nichts, was an dieses Kind erinnert. Nur zwei Tests und zwei Blutwerte bezeugen, dass es
überhaupt da war. Es darf doch nicht einfach so weg sein. In schlechten Momenten merke ich, wie
ich mich einfach nur beraubt fühle. Um die Zeit mit meinem Kind. Davon hatten wir nicht genug.
Und in guten Momenten bin ich einfach nur dankbar, dass es überhaupt da war. Aber das reicht nicht,
ich will es einfach zurück.
Darum. Darum muss ich glauben, sollten wir wieder ein Kind erwarten, dass dieses Selchen einfach
noch mal uns findet. Und ich habe etwas Angst vor dem Gefühl, der Gewissheit, wenn es soweit wäre,
dass eine andere liebenswerte Seele zu uns gefunden hat, dass mein Herzkind nicht zurück kommt,
sondern fort bleibt, für immer. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Wo ist es nur hin? Warum?
Wie konnte das überhaupt alles passieren?
Es ist nicht richtig, dass ich seit Tagen Binden benutze, die ich erst wieder im August hätte brauchen
sollen. Es ist nicht richtig, das Gefühl zu haben, das ein kleines Leben einfach so aus einem fließt. Es
ist nicht richtig, dass mein Kind weg, aber das HCG noch in meinem Körper schwimmt. Das alles ist
so falsch. Aber es passiert trotzdem.