Tränen

Ein Drittel der Schwangerschaft war geschafft. Ein Drittel des Weges gegangen. Ein Drittel,
so nah am Kind. So weit schon. Und dann zieht es einem so den Boden weg. Den Tag habe
ich für mich bisher wie in Trance verbracht. Der schlimmste Moment war der, als wir es
gemeinsam den Kindern sagen mussten. Ich glaube, so schrecklich hab ich mich schon lange
nicht gefühlt. Zoe und Noah haben beide angefangen zu weinen und wir mussten sofort
halten, trösten, Tränen trocknen, Kuscheltiere bringen. Wobei Noah sich erstmal schnell
wieder beruhigte. Er trägt seine Gefühle nicht so sehr nach Außen, das ist nicht seine Art.
Umso schlimmer war es, als er nach dem Abendbrot beim Anblick der Kerze und des letzten
Ultraschallbild mit lebenden Kind (das letzte sah bisher nur ich an und das wird wohl auch
ein Leben lang so bleiben) wirklich in Tränen ausbrach. Ich hielt ihn nur fest, er wollte nicht
sprechen auch jetzt nicht, er weinte nur fürchterlich. Als ich ihn dann nach oben gebracht
hatte und den Papa noch mal zu Noah schickte, weinte Zoe erneut. Es ist fürchterlich. So
grausam.
Wir wollten den Kindern diese Liebe zum Geschwisterchen nicht nehmen. Es ihnen nicht
berauben und ich hätte nicht lügen können, als Noah mich vor ein paar Wochen gerade aus
fragte, ob ich ein Baby im Bauch hätte. Aber man möchte den Kindern das auch ersparen.
Möchte, aber man kann nicht. Wie auch? Lügen? Leise Weinen? Dieses Tragen des Kummers
durch die ganze Familie, dieses Luft anhalten, das weinen und sich hilflos fühlen und unendlich
Traurigsein, ist schrecklich. Es ist nichts mehr wie es war. Alles ist falsch. Nicht mehr richtig.
Es tut weh. Ich sollte jetzt eigentlich glücklich sein.
Ich saß heute in der Sonne, sah den Kindern im Sandkasten zu, meine Hand ruhte auf dem
toten Bauch und es war einfach falsch. Es sollte sich anders anfühlen, auch wenn ein anderer
Teil meines Herzens hüpfte vor Glück. Denn wie sagte unser Noah heute richtig: „Mama, ein
Glück, dass wir es zu euch geschafft haben.“ Sie sind kleine Wunder. Ich weiß das und
während ich das schreibe, laufen die Tränen. Ich wusste das vor der ersten Fehlgeburt und
ich wusste es erstrecht danach. Aber ich kann und will und werde nicht verstehen, wieso
dieses Kind gehen musste. Erklären sie mal Ihrem Kind, warum das Herz einfach aufgehört
hat zu schlagen und was jetzt morgen mit mir im Krankenhaus passiert, was mit dem Kind
passiert. Ich lüge nicht, ich gebe weiter, was ich weiß. Schon immer. Das Seelchen ist fort,
man holt den toten Körper heraus, damit wir uns verabschieden können.
Ich glaube, was den großen Kindern wirklich Angst macht, ist dieses Bewusstwerden ohne das
sie es jemals in Worte fassen könnten, dass ihr eigenes Leben so zerbrechlich ist. Wenn sie
einen wirklich mit großen Kulleraugen anschauen und bemerken, was für ein Glück es ist,
das es sie gibt. Schlimm. Auch wenn ich sehe, mehr und mehr was für unglaublich tolle, weise
und empathische Kinder wir da haben. Ich hätte gerne darauf verzichtet ihnen all das mitzugeben.

Ich versuche mit aller Macht, das Schöne in unserem Leben zu sehen, zu lachen. Ich weiß, ich
habe das schon einmal durchgestanden. Aber immer wieder breche ich ein und beginne
zu weinen, ich bekomme Bauchweh vom Verkrampfen. Ein anderer schlimmer Moment war heute
als ich erfuhr, dass ich morgen um 9Uhr im Krankenhaus sein muss. Da bin ich zusammen
gebrochen. Ich habe gefühlt solange auf diesen Termin gewartet, aber es bricht mir das Herz,
mich morgen leer, ohne Liebe, ohne diese Kind zu fühlen. Es ist dann endgültig fort. Für immer.
Und es bricht mir einfach das Herz. Es fort zu wissen. Ich habe genau in diesem Moment
gemerkt, dass ich loslassen muss und ich habe gemerkt, erst da wie verdammt schwer das
werden wird, und dass ich das nicht will. Ich weinte nur, ich würde es am liebsten für immer
bei mir haben und es nie mehr hergeben.
Wir, nein der Mann hat sich mit dem Bestattungsinstitut in Verbindung gesetzt, ich glaube, dass
hat ihm viel Kraft abverlangt. Aber er hat es geschafft. Ich hoffe jetzt, dass alles klappt und
das wir unser Kind beerdigen können. Uns vom ihm verabschieden können. Auch wenn ich
nicht weiß, ob alle Kinder das durchstehen. Es ist alles ein langsames Vortasten, Schritt für
Schritt oder wie der Mann heute so unendlich liebevoll sagte, erst heute, dann morgen, dann
übermorgen. Tag für Tag, dann sehen wir weiter.

Ich habe Angst vor morgen. Ich kann niemanden mehr hören, der sagt: Wird schon gut gehen.
Es kann immer etwas passieren. Es war unwahrscheinlich, erneut sofort ein Kind nach einer
Fehlgeburt zu verlieren und genau das ist passiert. Es war unwahrscheinlich, dass dieses Kind
noch stirbt nachdem 12 Wochen geschafft waren und genau das ist passiert. Ich habe Angst.
Vor der OP, den Menschen, der Narkose, den Schmerzen, Fehlern beim Eingriff, seien es
Unfruchtbarkeit oder Vergessen von sogenannten Resten und einer dann erneut nötigen OP,
ich habe ernsthafte Angst nicht mehr aufzuwachen morgen. Unsere Sterne stehen gerade nicht
so gut, scheint mir und meine Kinder, mein Mann… ich werde gebraucht. Also wenn Sie ein
paar Gedanken übrig haben morgen, ich wäre so unendlich dankbar.

Was mir keine Ruhe lässt, ist was das Manschgal gefühlt hat. Ob es gelitten hat oder ob das
Herz einfach von jetzt auf gleich aufgehört hat zu schlagen. Und alles sofort vorbei war.
Ich kann es nicht glauben, noch vor ein paar Tagen legte ich die Wäsche und dachte an
kleine Strampler, die ich bald waschen müsste. Vor ein paar Tagen, war noch alles richtig.
Vor ein paar Tagen, da dachte ich daran, was es wohl denken würde, das kleine Wesen, wenn
es zu hören beginnt und so viele Stimmen hört. Ich dachte immer im Spaß, ob es wohl denken
würde: „Herrje, wo bin ich denn gelandet, in einer Großfamilie. Na das wird ein Spaß.“
Und jetzt sollen wir einfach weiter machen ohne es. Ich mag nicht. Aber ich muss. Wir müssen.
Es tut so weh und es ist so schrecklich falsch.

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