Irrglaube

Als ich am ersten Tag hier abends saß, konnte ich das Bild meiner Oma nicht vergessen, wie
sie da lag. Ihr Gesicht, ihre Augen. Und ich konnte einfach nicht aufhören mich zu fragen, was
sie wohl denkt, was sie fühlt. Ich dachte es ginge nur darum, ob sie kämpfen will oder einfach
unseren Segen haben will, dass es in Ordnung ist, wenn sie nicht mehr mag. Ich dachte, so
einfach wäre das. Wie bei unserem fünften Kind. Soll ich kämpfen mit aller Kraft und Hoffen und
nicht aufgeben oder soll ich lieben und loslassen?
Gestern fragte ich sie, was sie sich wünscht. Und sie sagte, Gesundheit. Und plötzlich kam ich
mir so dumm vor. Sie will nicht sterben. Natürlich will sie das nicht, aber ich konnte sehen, dass
sie sich fragte, ob ihr Körper das schafft.
Die Nachbarin meiner Eltern, die selbst Brustkrebs erfolgreich bekämpft hatte sagte heute zu
mir, wenn sie nur wirklich will, schafft sie es auch. Aber ist das so? Wie muss sich das anfühlen,
wenn man will, wenn man leben will und der Körper entgleitet einem so? Man ist noch ganz
klar, aber man kann nicht mal selber trinken, nicht aufstehen und nicht allein atmen.
Sie liegt da den ganzen Tag allein. Es ist deprimierend. Sie schaut auf die Uhr. Und es zieht
sich nur der Tag so dahin. Ich verstehe sie. Und ich liebe sie.
Sie hat eine Patientenverfügung, die ihre Söhne nicht unterschreiben wollen, weil sie ja schon
künstlich ernährt wird und das abgelehnt hatte und nach dem Gespräch gestern war klar, dass
sie nicht aufgeben will. Nur weiß sie nicht, was noch kommt. Sie hat Angst. Die Ärzte sprachen
von maximal 1- 1,5 Jahren. Das ist nicht viel Zeit. Und die Frage ist, wie und wo sie die verbringt.
Nicht um jeden Preis, sagt ihr Blick. Sie will nach Hause, sagt ihr Blick. Am liebsten tät sie sich
wohl alles abreißen, aufstehen und gehen, den ganzen Zirkus verlassen, aber sie kann nicht.
Sie kann einfach nicht. Ich fahre nachher das letzte Mal zu ihr. Und in drei Wochen bin ich wieder
hier. Und werde sie hoffentlich sehen. Aber bis dahin vergeht noch so viel Zeit.

5 Kommentare

  • Ina

    Ich war hier immer nur stille Mitleserin. Und habe oft genug sozusagen den Atem angehalten ….

    Jetzt will ich einfach nur sagen: Ich denk an Dich.

  • die_schottin

    Du es ist so toll, dass sich Deine Oma noch äußern kann. Das ist wichtig. Meine schottische Oma war lange krebskrank. Sie hat lange gekämpft und als dann nach 3 Jahren die Kräfte schwanden und ihr Leben für sie nicht mehr lebenswert war (überall Metastasen und einige Schlaganfälle mit Lähmungen etc), da sagte sie den Ärzten in einem klaren Moment nach einer Wiederbelebung, dass sie sie das nächste Mal nicht mehr zurückholen sollen. So sollten das alle Menschen entscheiden können. Ich hoffe für Deine Oma sehr, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht und sie wieder so fit wird um nach Hause zu kommen. Und jetzt stell Dir mal vor die hätte ihren Wunsch nicht äußern können und die PV wäre unterschrieben? Man kann eben nicht alles im Leben planen und vorhersehen. Wer weiß das schon besser als Du zur Zeit. Ich schicke ganz liebe Gesesungswünsche an Deine Oma.

  • Ivonne

    auch ich bin eine stille Leserin. Ich versteh sie gerade so gut, glauben sie mir. Seien sie stolz auf sich . Sie sind eine tolle Frau………

  • Sabrina

    Ich denke gerade an meinen Schwiegervater. Mit einer PV wäre er mit 60 Jahren nicht mehr da gewesen. Er hatte einen Hirnschlag. Danach folgten achteinhalb Jahre Wachkoma. Ich bin mir sicher, er ist für uns gebleiben. Das war sein Wille, weiter da zu sein, für seinen Sohn und mich. Dann, weil er seinen Enkel kennenlernen wollte. Sagen konnte er es nie. Fragen konnten wir ihn nie. Keiner von uns hat sich getraut, ihn das zu fragen. Er hätte und vielleicht durch ein Zwinkern antworten können.

    Ich wünsche deiner Oma einfach, dass sie nach Hause gehen und so viel von eurer Liebe kriegen kann, wie es nur geht und euch ebenso viel Liebe geben kann. Ich wünsche euch, dass alles so wird, wie sie es sich wünscht.