Selbstbehauptungskurs

Als ich 2007 Veronika Ferres im Fernsehen ihr neues Buch „Nein, mit Fremden geh ich nicht!“ vorstellen
sah, schüttelte ich nur mit dem Kopf. Das war nicht so das richtige für uns. Meine Tochter war gerade
3 Jahre alt geworden, gerade mal ein paar Monate im Kindergarten und ich konnte mir einfach nicht
vorstellen, meinen Kindern solche Bücher vorzulesen und ihnen in meinen Augen damals Angst vor der
Welt zu machen. Das wollte ich nicht. Ich hatte Sorge bei sehr sensiblen Kindern den kritischen Punkt zu
überschreiten und ihnen Angst vor dem Leben und den Menschen zu machen, davor hatte ich mehr Angst
als vor der, dass meinem Kind tatsächlich etwas passieren könnte. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit,
dass ein wirklich Fremder unseren Kindern Böses will nur ein Bruchteil so groß wie die, von einem
Menschen, den sie kennen und gar vertrauen, verletzt zu werden.
Auf der anderen Seite wollte ich sicherlich auch nicht, dass meine Kinder von der Welt ferngehalten
werden und es in der Pubertät zu all den Veränderungen noch zu bewältigen gibt, dass die Welt so ganz
anders ist als von Mama und Papa beschrieben. Wir reden über alles mit den Kindern. Es gibt glaube ich,
keine Tabuthemen. Aber es ist immer alles eine Frage des „Wie?“.
Dieser Zwiespalt in mir -zwischen lebensnahe und beängstigend- hat sich nur bedingt verändert. Aber
nicht nur seit den vergangenen Monaten, weiß ich auch, dass Kinder in der Regel alles verkraften können,
wenn man aufrichtig ist, aber bei und mit ihnen. Unsere Großen sind älter geworden, Zoe ist heute
6 Jahre alt, Noah 5. Was ich damit meine ist, dass sie sich verändert haben und man logischer Weise ganz
anders mit ihnen sprechen kann. Letztes Jahr habe ich bei einem Ausflug im Sommerurlaub in einer
Buchhandlung nach einer Buch gegriffen und es gekauft ohne vorher rein zu lesen, weil ich irgendwo
gelesen hatte, dass es sehr gut sein soll. Aber „Immer diese Monster“ war kein Buch wie das zu Hause
liegende „Entschuldigung, sagte das Monster“ (< - Ich liebe diese Buch!). Die Bücher, die ich in den Jahren kaufte, weil pädagogisch wertvoll, gefielen mir gar nicht gut. Und so gut finde ich "Immer diese Monster“ ehrlich gesagt nicht, aber ich weiß auch nicht,
ob es für dieses Thema wirklich geeignete Bücher gibt.
June empfahl mir vor ein paar Jahren „Der Neinrich“ und das mag ich gern, zu dumm, dass die Kinder
es nicht so oft lesen wollten, wie ich es gerne vorgelesen hätte. Aber es geht das Thema viel
besser an, wie ich finde. Es soll Kinder einfach stärken und lässt die Familie, da nicht einfach außen
vor und hat mich sehr zum nachdenken angeregt, viele Aussagen fand ich sehr richtig und habe sie einfach
übernommen.
Aber „Immer diese Monster“ musste ich immer und immer wieder vorlesen. Und jedes Mal, folgten im
Anschluss natürlich Gespräche, weil ich meine Kinder damit nicht allein lassen wollte. In diesem Jahr
nahmen wir es sogar mit in den Urlaub (jedes Kind darf zwei Bücher mitnehmen) und ich las es tapfer
vor und sprach mit den Kindern, wieder und wieder. Und mit jedem Gespräch wurde die Angst davor,
meinen Kindern Angst zu machen kleiner, seltsamer Weise bereicherte uns das.
Schon in den letzten Jahren fand im Kindergarten ein Selbstbehauptungskurs statt. Und ich hatte von
einer Freundin schon vor zwei Jahren davon gehört, dass man die Kinder „testet“. In dem einen Jahr haben
genau zwei Kinder diesen „Test“ bestanden.
Letzte Woche Mittwoch kam mir eine liebe Erzieherin aus dem Kindergarten entgegen und sagte mir,
dass ich eine tolle Tochter habe, auf die ich stolz sein kann. Alle Vorschulkinder, die am Selbstbehauptungs-
Kurs teilgenommen haben, wurden unter einem Vorwand vor die Tür geschickt, nach draußen vor die Tür.
Noch weiter draußen vor dem Kindergarten stand eine Frau auf dem Parkplatz und bat Zoe zu ihr zu
kommen, denn ihr Schlüssel sei zwischen die Sitze gefallen und sie bräuchte jetzt Zoes Hilfe. Zoe ging
nicht zu dieser Frau, weil sie es nicht darf, das hätte ihre Mama ihr gesagt, entgegnete sie der Unbekannten
und ging wieder rein zu einer Erzieherin mit den Worten, draußen sei eine Frau, die Hilfe brauche.
Ich war und bin stolz. Ich hab mir den Mund fusselig geredet. Aber natürlich sagt das sehr, sehr wenig
darüber aus, was alles passieren könnte. Ich kann ihr nicht jedes mögliche Szenario vorher erklären.
Aber, sie ist nicht ins Auto eingestiegen. Sie hat Hilfe geholt. Da passiert was in ihr.
Traurig bei allem ist, dass die Hälfte der Kinder eingestiegen ist und das nicht, weil sie dumm sind
oder lebensmüde, sondern einfach nur weil sie helfen wollten. Am Ende bleibt es ein sehr schwieriges
Thema und eine Gradwanderung zwischen Selbstschutz und Angst vor der Welt.
Aber ich finde es großartig vom Kindergarten da so unterstützt zu werden. In dieser Woche zeigte man
den Kindern, wie man sich aus dem Schulranzen befreit, wenn jemand sie am Ranzen festhält. Zu
Hause beim Üben, flitzte meine Tochter einfach da raus. Sie ist flott, aber im Ernstfall ist das etwas
ganz anderes als zu Hause mit Mama oder im Kindergarten. Aber wir reden darüber. Immer wieder. Nur
zugegebener Maßen, müsste ich das eigene Umfeld viel eher angehen. Denn die Kinder sind nicht nur
älter und verstehen mehr, sie sind auch öfter allein bei Freunden, ich bin nicht immerzu da um sie
zu beschützen, dass geht ja so oder so nicht, und so hoffe ich einfach, dass sie laut nein sagen
können oder sich mir zumindest anvertrauen. Bis dahin wahre ich ihre Grenzen und versuche einfach
sie zu bestärken.

5 Kommentare

  • Wolfram

    Es is wirklich traurig, daß man quasi die besten Impulse – helfen wollen – unterdrücken muß, um die Kinder zu schützen.
    Zoe hat aber den Spagat geschafft, Hilfe für die Frau zu besorgen und sich dabei trotzdem nicht in Gefahr zu begeben.
    Dafür kriegt sie von mir noch mal Sonderpunkte.

    Zum Glück ist das alles eine Übung für Gefahrenmomente, die nur ganz selten wirklich vorkommen. Denn wie du schon schreibst: die meisten Gefahren lauern im Vertrauensbereich, bei Familie und Freunden… obwohl ich meiner Familie bisher bedingungslos vertrauen kann.

  • Frau Muschel

    Ich bekam eben eine Gänsehaut. Wegen der Kinder die helfen wollten….
    Schön das Zoe den Spagat, wie Wolfram es beschreibt, schafft. Du kannst wirklich wirklich stolz auf sie sein.

    Herzlich Frau Muschel

    P.S.: Das fuseligen Mund reden und manchmal mulmiges Herzklopfen haben, dass habe ich sogar manchmal!! noch beim 15 Jährigen ;o)

  • fishly

    Da habt ihr einen wirklich tollen Kindergarten, wenn auch solche Gefahren besprochen und „getestet“ werden. Zoe übrigens hat meinen vollen Respekt für diese Leistung. Du hast wirklich eine tolle Tochter. Ich wäre mir sogar bei mir selbst nicht zu 100% sicher, ob ich nicht im falschen Moment zu viel Vertrauen in die Menschheit zeigen würde.

  • Miss VergissmeinNicht

    WOW! Auch von mir Respekt an Zoe!
    Das Finden einer anderen, auch akzeptablen Lösung ist nicht nur in solchen Situationen so wichtig! Manchmal reicht es einfach zwei Streitende aus ihrer Situation hinaus zu nehmen und ihnen die „dritte“ Lösung zu zeigen, die beide zufriedenstellt. Genauso wie mit dem Helfen, das aber nicht alleine. Ganz toll!

    Auf den Fotos oben sehe ich, wie lange Zoes Haare schon sind! Sehr hübsch!