Angst vorm Frühling

In Zoes Zimmer ist die Gardine kaputt gegangen. Irgendwann waren große Löcher drinnen und der Mann hat dieses löchrige Ding dann abgenommen. Als ich also vor ein paar Tagen in ihrem Zimmer stand morgens, fiel mir das erste Mal auf, dass ich durch die Winterzeit freien Blick auf den Friedhof da hinten habe.
Wenn ich also aus dem rechten Fenster in ihrem Zimmer sehe, kann ich das Krankenhaus sehen, in dem ich unsere Söhne zur Welt gebracht habe und aus dem linken Fenster sehe ich direkt zum Friedhof. Ist mir noch nie aufgefallen bis die Gardine weg war.
Irgendwo da liegt unser ungeborenes Kind. Es ist ein anonymes Grab, weil es die Vorschriften so vorsehen. Wir haben einen Stein und einen Ort der Trauer, aber ich weiß nicht genau, wo man unser Kind begraben hat. Einen Bestatter aufsuchen war wohl nicht das, was der Mann jemals für möglich gehalten hätte. Und dennoch hat er sich tapfer darum allein gekümmert. Nie im Leben hätte ich das gekonnt. Fötensarg. Eines der Wörter, die wir beide wohl nie in den Mund nehmen wollten.
Unser Kind so zur Welt bringen, nicht berühren und verabschieden können, allein im Krankenhaus sein, war nicht eines der Dinge, die ich jemals erleben wollte.
Jetzt wo der März naht und der Frühling unaufhaltsam kommt, kommen die Erinnerungen an all das zurück. Wie schon einmal in einem anderen Blog gelesen, das erste Jahr ist das Schlimmste, weil man alles das erste Mal ohne macht. Jetzt naht mit großen Schritten der Todestag. Und wie sehr ich mich auch bemühe und auch weiß, dass Frühling etwas wunderschönes ist, uns gut tun wird und ich mich wieder auf den Garten und die Arbeit da freue, die ersten Bilder und Gefühle, die ich jetzt bei Vögelzwitschern und Sonne wieder erlebe ist der Nachmittag an dem ich draußen mit Ben beim Sandkasten saß, ihm Weintrauben reichte und ihn voller Liebe beobachtete wie er dort vor sich hin spielte. Ich saß daneben und dachte nur an den Unfall gerade, den Aufprall und das ich wusste, mir nur sagte diese Schmerzen müssten jetzt gehen und selbst wenn, wenn wirklich das Unvorstellbare passierte wäre, hätten wir keine Chance, niemand könnte uns helfen. Uns konnte niemand mehr helfen. Heute frage ich mich, wie schon damals einen Tag später, nachdem das Unvorstellbare Gewissheit geworden war, ob er da noch lebte in mir oder ob alles ganz schnell ging und sein Herz sofort aufgehört hatte zu schlagen. Ich saß einen Tag später im Schaukelstuhl und mein Kind lebte nicht mehr in mir, dennoch lag beschützend und liebend meine Hand auf meinem Bauch, eine Woche später nach der Beerdigung saß ich draußen bei schönsten Sonnenschein im Schaukelstuhl und alles war falsch. Mein Bauch war leer. Das sind die ersten Bilder, die in meinem Kopf auftauchen, wenn ich an Frühling denke und erste wärmende Sonnenstrahlen.
Den Frühling über habe ich gekämpft, weil ich mir lange Zeit nicht eingestehen wollte, dass es anders, schlimmer war für mich, als die erste Fehlgeburt. Ich hatte mich gesorgt oder geängstigt wie jede Mutter, aber in der 14. Woche denkt man, hofft man doch, man wäre auf der sicheren Seite.
Ich kann heute noch nicht hören, wenn andere diese Schicksale im Leben nicht hören wollen, es „Geschichten“ nennen oder „Stories“. Wenn ich in den letzten Monaten, in diesem fast ersten Jahr eines lernte dann das es Jeden jederzeit treffen kann und Jeder hofft niemals diese schreckliche Grenze zu überschreiten und ein Teil dieser „Geschichten“ zu sein. Damals als ich diese Buch über Geburt schreiben wollte, scheiterte dies nicht an den vielen Berichten, die man mir zum Arbeiten gab. Es scheiterte genau an diesen „Geschichten“, die warum auch immer für mich in dieses Buch gehörten. Es gab so viele die sich für Interviews bereit erklärten, aber ich kam mir so stümperhaft vor, egal wie viel Mühe ich mir gab, ich fand keinen Zugang. Wenn ich meine Fragen heute lese, sie waren nicht schlecht, aber ich wollte es authentisch schreiben, irgendwas hinderte mich daran es einfach so zu machen. Und jetzt hoffe ich einfach nur, dass ich irgendwann die Kraft und Zeit habe genau dieses Buch von damals, dass so echt in meinem Kopf aussieht, Realität werden zu lassen. Ein rundes Buch über Leben und Tod, so nahe beieinander.
Irgendwann im Sommer letztes Jahr als ich aufhörte mich selbst zu zensieren und es niemanden mehr recht zu machen, sondern ganz bei mir wahr, konnte ich heilen. Wir haben mit der weiteren sehr frühen dritten Fehlgeburt dann und dem folgenden Gen- und Bluttests als Paar ziemlich viel durch gemacht, aber nie hatte ich so große Angst um unsere Ehe als nach der Beerdigung, als wir beide in so verschiedene Richtungen gingen. Es war nicht klar, dass wir das schaffen. Ich hatte es gehofft. Wir haben einen Weg gefunden, aber es trennten uns Lichtjahre.
Das ist noch heute so. Wir gehen anders damit um. Während ich oft und regelmässig beim Grabstein war, suchte der Mann diesen nur ganz selten auf und nur unterstützend. Jetzt war ich selbst seit Monaten nicht mehr dort. Weil es mir keinen Trost mehr gab. Zu Beginn war das viel wichtiger für mich. Dennoch reden wir nicht viel. Manchmal glaube ich, dass wir das nicht brauchen, wir waren beide dabei. Wir haben beide geweint, beide Abschied genommen. Wenn auch ganz unterschiedlich.
Jetzt wo der Frühling naht, dieser März, da schnürt es mir alles zu. Ich habe Angst. Ich versuche diese Angst zu greifen und in Worte zu packen, damit sie nicht überhand nimmt. Ich habe Angst, noch mal ein Kind dort bestatten zu müssen. Unsagbare. Ich habe Angst, noch mal solche Gefühle zu fühlen und vermisse mein verstorbenes Kind. Nach wie vor. Auch wenn ich nicht immer zu daran denken mag. Und mich lieber auf das Schöne konzentriere, vielleicht muss ich mir selbst mehr Raum lassen für mein Vermissen ohne eine neue Angst und ohne schlechtes Gewissen.

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