Eigentlich…

sollte meine Oma in wenigen Stunden Geburtstag feiern. Stattdessen ist sie in wenigen Tagen schon vier Monate nicht mehr bei uns. Kaum zu glauben, dass sie noch vor einem Jahr mit uns die Einschulung gefeiert hat, schwach auf den Beinen, aber sie war den weiten Weg gekommen. Sie war erst hier, ein Jahr ist es her. In meinem Haus, unter meinem Dach und hat mich mit ihrer bloßen Anwesenheit glücklich gemacht. Ich kann mich an den Spaziergang im Schlosspark erinnern, daran wie sie dort Samen für die Anemonen gesammelt hat, wie sie in Noahs Bett geschlafen hatte, wie sie weinte als sie fuhr, wie ich weinte nachdem sie weg gefahren war, weil wir beide doch wussten oder befürchteten, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte, das sie hier war.
Vor einem Jahr erfuhr ich, dass meine Schwester schwanger ist, vor einem Jahr an meinem Geburtstag wusste ich, dass meine Oma wieder zur Kontrolle in die Röhre käme. Was ich nicht wusste war, wie schnell alles gehen würde und wie wenig ich davon mitbekommen würde. Ich war ganz bei mir und so erfuhr ich erst Monate später, dass er wieder da war der Krebs. Man hatte beschlossen mir nichts zu sagen, meine Eltern und mein Mann. Um des Kindes wegen in meinem Bauch, um das ich so viel Angst hatte und so wie ich meinen Eltern nichts erzählt hatte von den Sorgen und Problemen dieser Schwangerschaft um meine Eltern zu schützen. Als meine Eltern mich besuchten und mir die Wahrheit sagten habe ich Tage, wenn nicht länger gebraucht um das zu verarbeiten, ich wollte sofort zu ihr fahren um sie zu sehen. Aber meine Eltern wollten in den Osterferien weg fahren und so konnte ich nicht hin, der nächste Termin, die nächsten Ferien waren Wochen später. Alle sagten im Nachhinein, ich hätte es wohl geahnt, aber ich denke es war so ganz anders. Ich fuhr, als ich konnte. Ich wusste zwar, dass ich im August in Berlin sein würde, zum runden Geburtstag meines Vaters, aber ich hielt es nicht aus so lange zu warten. Etwas trieb mich. Meine Vater sagte einmal zu mir, ich sei meiner Oma so ähnlich, so kühl und kontrolliert, mich hat das immer verletzt, aber am Ende fühlte ich mich ihr doch so nahe und vielleicht hat er ja doch recht? Wir haben beide getan, was wir mussten, manchmal über Grenzen hinaus und jammerten nicht viel. Aber kalt war sie nie.
Als ich nach Berlin fuhr versuchte man mich vorzubereiten, kurz vor unserer Abreise sagte man mir sie hätte sehr abgebaut und so war es auch. Sie konnte kaum essen und hatte sich selbst ins Krankenhaus eingewiesen, wie ich es ihr am Telefon noch gesagt hatte. Ich war hochschwanger. Je näher die Reise rückte umso mehr wollte ich nicht fahren. Ich schob immer die lange Reise vor, 6 Stunden Zug. Ich sei doch schwanger. Aber vielleicht spürte ich es schon die ganze Zeit, jede Faser meines Körpers wollte nicht dahin fahren. Da war meine Schwester gerade entbunden, die noch schwanger hätte sein sollen, meine frisch operierte klitzekleine Nichte auf der Neo und meine kranke Oma. Ich wollte da nicht hinfahren.
Als ich in der 36. Schwangerschaftswoche vor ihr an ihrem Bett stand, sah sie so schlecht aus. Ich hatte ihr ein neues Foto ihrer ersten vier Ur-Enkel mitgebracht, daneben stand ein Bild meiner Nichte. Sie scherzte und sagte, sie würde ebenso schwanger aussehen wie ich… dabei hatte ich einen Kloß im Hals, wegen meiner Angst, die immer noch da war meinem Sohn könnte etwas zustoßen und wegen dem was ich sah, ihre Bauchdecke war wohl aufgebrochen? Sie sah einfach sehr krank aus. Sie hatte gerade erst wie alle anderen vor kurzem erfahren, dass ich schwanger bin und sah mich nun so rund. Sie sagte, jetzt würde es wohl nicht mehr lange dauern bis er schlupft und ich weiß noch genau, dass ich sagte, doch er hätte noch etwas Zeit, nicht nur ein paar Tage und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, sie würde nicht mehr auf ihn warten. Sie fragte nach seinem Namen und den sagte ich ihr. Das ist alles, was sie wusste von unserem Sohn. Meinem Kind, dass sie nicht mehr kennen gelernt hat.
In diesen vier Tagen in Berlin besuchte ich meine Oma zweimal, einmal mit meinem Mann und jeweils mit zwei Kindern, damit sie uns alle sieht. Und sogar noch da, hätte ich niemals in mein Herz lassen können, dass ich das alles tat, weil es die letzte Chance war. Ich besuchte meine Schwester und meine Nichte und dann fuhr ich nach Hause. Davor hatte ich jeden Abend Wehen gehabt, aber es kam für mich gar nicht in Frage jetzt in Berlin mein Kind zu bekommen. Es war schon zuviel schief gelaufen und jeder erwartete von mir, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, eines das nicht noch operiert werden müsste, eines das nicht zu früh käme.
Ich fühlte mich schrecklich krank auf der Heimfahrt. Und am nächsten Morgen hatte ich eine Panik Attacke, denn ich hatte das Gefühl mein Kind bewegt sich nicht mehr. Was er auch wirklich nicht tat wie sonst, es war still im Bauch. Ich weinte, ich fühlte mich wahnsinnig krank, hatte Angst vor einer Infektion oder Problemen mit der Plazenta und schleppte mich zur Klinik und schluckte, als ich im Kreisssaal ankam, aber als die Hebammenschülerin Emils Herztöne fand war ich im siebten Himmel. Ich war so erleichtert. Ich bekam eine Infusion, mit irgendeinem Vitamin, man schrieb ein CTG, ich bekam Magnesium und Bryophullum erneut, eine Woche sollte ich noch brüten. Man schallte und schaute. Alles war soweit okay und auch am nächsten Tag ging es mir viel besser, als sei nie etwas gewesen, aber ich war wohl einfach erschöpft. Meine Seele. Mein Herz. Das war einfach zuviel gewesen. Nur das war es gewesen.
Nur wenige Tage später wurde sie ins Hospiz gebracht und ich werde niemals den Anruf meiner Mama vergessen, nur etwas mehr als eine Woche nach unserer Abreise. Sie konnte nicht mehr warten. Sie war eingeschlafen.
Ich war allein als der Anruf kam, ein Zufall. Die Kinder waren gerade mit ihrer Oma Essen, ich setzte mich auf die Terrasse und wartete was mit mir geschieht, horchte in mich, wartete auf das was kommt und dann flossen die Tränen nachdem ich eine Weile einfach auf der Terrasse gesessen hatte, auf dem Stuhl und meinen Bauch festgehalten hatte. 37. Woche. Es tat weh. So sehr. Und dennoch war der Schmerz ein anderer, als der, den ich schon hatte fühlen müssen. Davor hatte ich solche Angst gehabt, vor meinen eigenen Gefühlen, was mit mir geschehen würde ohne sie.
So lange hatte ich mich vor diesem Tag gefürchtet, geweint, gelitten und nun war sie fort. Nie wieder würde sie versuchen mich anzurufen an meinem Geburtstag nur wenige Tage nach ihrem eigenen, nie wieder würde sie, wenn ich sie anrufe und sie mich hört in den Hörer rufen: „Ach! Jeani!“ voller Freude.

Ich werde morgen an dich denken, Omi. Ich werde mich auf ewig an unser letztes Telefonat erinnern, daran wie wir dir den ersehnten Spiegel ins Krankenhaus gebracht haben, weil du dich sehen wolltest, wie du gefragt hattest, ob es das jetzt war… Ich werde dich nie vergessen und das ist alles was ich tun kann und wenn meine Tochter beim Anziehen heute früh mal wieder sagt, dies sei eine besondere Leggings, weil sie sei ja ein Geschenk von der Oma Daisy, ja dann haben wir doch alles richtig gemacht, weil wir uns an dich erinnern.

Oktober- unser beider Monat. „Beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes erinnern wir uns an dich…“ Diese Gebet las ich auf der Beerdigung unseres ungeborenen Kindes letztes Jahr und ich hätte es ganz sicher auf bei deiner vorgelesen, wenn ich denn gekonnt hätte, aber ich durfte nicht mehr fahren. Und ich hätte es dann auch nicht mehr gekonnt, weil Emil, dein Ur-Enkel sich zweite Tage zuvor auf den Weg gemacht hatte. Und die ganze Zeit über habe ich immer gefühlt, dass ich kein Kind auf diese Welt bringen kann, solange du lebst, als würde sich das ausschließen, als hätte das Universum andere Pläne. Letztes Jahr hast du den Krebs besiegt und unser Kind musste gehen und auch in diesem Jahr musste jemand gehen, damit jemand anderes leben konnte. (Und während ich das schreibe habe ich nach wie vor Angst, das Universum könnte es sich noch einmal anders überlegen…) Als würde sich ein Kreis schließen… Es macht mich traurig das zu schreiben, aber genauso habe ich das leider gefühlt… Ich denke an dich. Nicht nur morgen. Du fehlst mir.

11 Kommentare

  • FrauPerle

    Für deine Omi und dich, eine Kerze in meinen Gedanken.

    Liebe, Licht und Wärme kommt mir entgegen und ich glaube das würde deine Oma am meisten erfreuen.

    In deinen Gedanken und Erinnerungen ist sie dir nah, ganz nah. Auch wenn es jetzt noch so sehr schmerzt, irgendwann wirst du sie in Ruhe an sie denken können…

  • kassiopeia

    @FrauPerle: Meine erste Reaktion außer Rührung dank deiner Worte war, „aber ich denke doch in Ruhe…“ und dann merkte ich, dass das nicht stimmt. Noch nicht. Noch bin ich traurig. Danke dir, für deine Zeilen.

    @FrauKollegin: Und ich mit dir! So sehr!

    @Mamachaos: Danke dir!

  • Schwesterherz

    Jeani ich hab so ein Klos im Hals beim Lesen.

    Ich hab nichtmal verarbeitet was uns mit Zainab passiert ist… dann Oma und oft kommt es von ganz allein das ich mich daran erinnere sie niemals wieder zu sehen. :(

    Ich hab dich lieb

  • kassiopeia

    @Schwesterherz: Ich hab dich auch lieb! Und ich versteh dich. Das war schlimm. Du warst so tapfer… Das braucht alles Zeit, bis du das alles verarbeitet hast!

  • Stjama

    Ich habe so sehr geweint beim Lesen und tue es immer noch. Auch meine Oma ist gegangen, als ich in der 37. Schwangerschaftswoche war. Ich hätte mir so sehr gewünscht, sie hätte ihre Urenkelin noch gesehen und ihr sozusagen den Segen gegeben. Ich hätte gerne noch ein Bild gehabt, mit vier Frauengenerationen darauf. Ich war so traurig, dass ich nicht bei ihr sein konnte, als sie gestorben ist, aber das habe ich mir so hochschwanger einfach nicht zugetraut. Über sieben Jahre ist es her, und manchmal, so wie gerade, ist die Lücke, die sie hinterlassen hat, immer noch so schrecklich greifbar, dass ich gar nicht weiß, wohin mit meinen Tränen.

    Vielen Fank für dein Posting, es hat seit langem mal wieder Schleusen geöffnet.

    Liebe Grüße,
    Stjama