Nur noch einmal schlafen, dann bist du 30.

Der Tag an dem die Wachtel starb, der Tag meines dreißigsten Geburtstags. Ich fand ja so generell betrachtet, war es ein ganz und gar unguter Tag, um zu sterben, fast sogar unpassend. Aber sie tat es. Aber von vorn.
Es beschäftigte mich nicht unbedingt dreißig Jahre alt zu werden, eher aber beunruhigte mich die Wahrscheinlichkeit, das diesem Geburtstag weitere Geburtstage mit der Zahl „3“ folgen würden. Nicht, dass ich mein Leben jetzt gern beendet gesehen hätte, das nun auch nicht. Ich bin ja keine Wachtel, die das Zeitliche segnet, aber wirklich schon die Dreißiger? Äußerst beunruhigend das Ganze.
Was war bis hierher passiert? Genug. Was würde noch kommen? Hoffentlich noch mehr.
Mein Tag hatte wunderschön begonnen. Das was ich bestellt hatte, wurde geliefert. Ein Tag in Familie. Nichts anderes hatte ich mir gewünscht.
Und so erwachte ich an diesem Morgen mit Stimmengewirr. Woher kam nun dieser Kuchen fragten die Kinder und ein genervter Vater, mein Mann sagte: „Schon mal was von Überraschung gehört?!“ Und weitere Wiederholungen dieser Frage seitens der Kinder mit der gleichen Antwort des Vaters oder einem „Psst!“ folgten. Ach ja, mein Geburtstag. Guten Morgen, also. Ich erinnerte mich, deswegen waren wir ja hier im Baumhaus. Ein Stück weit geflüchtet ins Grüne, vor dem Feiern sowie den eigenen Ansprüchen an diesen ganz besonderen Tag.
Weil ich nun so etwas wie wach war, warf mein Mann heimlich still und leise im Bad aufgeblasene Luftballons auf unser Bett, in dem ich nach wie vor lag. Grüne, pinke und rosafarbene. Dann kam unsere Tochter bat um ihren Rucksack, holte etwas Buntes hervor und blies die von Hand beschrifteten Luftballons auf, die sie ohne Absprache mit ihrem Papa ebenfalls mitgebracht hatte. Also noch mehr Farbe. Die Ballons ergänzten einander so sehr, es schien beinahe so, als könnten sie nur miteinander so schön sein.
Auf zwei roten Luftballons standen jeweils einmal “Mama” und “Papa” mit einem Herzen versehen, schließlich seien wir verliebt, sagte sie. Auf den anderen standen die Vornamen unserer Kinder: Zoe, Noah, Tom, Ben und Emil.
Da lag ich nun umzingelt von Kindern und Luftballons, wobei mir nur Erstere zum Geburtstag gratulierten. Ja, das wollte ich, so sollte dieser Tag beginnen. Ich sah den Mann an, der eine so schöne Idee gehabt hatte, die Kinder, die lachten und mit den Ballons spielten und war einfach nur glücklich.
Nach ein paar Minuten setzte ich mich auf und sah wirklich einen Kuchen, so viel Liebe im Detail, dachte ich noch, während Emil längst den Korb mit dem Frühstück ausräumte, den man uns vor die Tür gestellt hatte. Bestimmt hätten alle Hunger, also ging ich schleunigst duschen, damit ich gleich wieder da wäre und wir frühstücken könnten.
Meine Eltern hatten einen Kuchen in einer kleinen Dose geschickt samt Wunderkerze in Herzform. Nils zündete die Wunderkerze an und und wir erfreuten uns alle an den Funken, die das Herz versprühte. Fast alle, denn Ben hatte es verpasst und schon hasste er mich, noch vor der ersten Mahlzeit. Das ging schnell.
Mir kam die Idee ein Foto meiner Lieben zu machen, also nutzte ich den Moment. Emil saß noch auf Nils Schoß und ich holte den Fotoapperat. Kaum hatte Ben die Kamera gesehen, lag er unterm Tisch, elegant und geschmeidig wie eine Boa Constrictor. „Ich hasse dich, Mama!“ Also leider kein Foto mit allen für mich. Jedenfalls keines, auf dem alle gleichzeitig glücklich gucken, wir wollen mal bei der Wahrheit bleiben. Man kann halt nicht alles haben. Mein 4- Jähriger guckte zwar grimmig, aber ich war selig, ich hatte mein Foto, festgehalten dieser eine Moment. Zoe beißt in ein Brötchen, Noah guckt seinen Bruder an, Tom greift einmal quer über den Tisch, Bens Kopf guckt unter dem Tisch hervor und der Mann schaut auf Emil, Emil wiederum auf die Schlange unter dem Tisch. Ich öffnete die Geschenke meiner Eltern, goss Milch in die Tassen mit Kakaopulver mal vier, schnitt Kuchen an und machte trotzdem alles falsch, da ich nach meiner Schokolade, die ich großzügig unter den armen Kindern verteilt hatte, nicht noch zusätzlich Gummitiere austeilte. Irgendwas ist halt immer.
Nach dem Frühstück war ich raus gegangen. Es nieselte und ich telefonierte mit meinen Eltern. Ich gab meine lustigen Witze vom Vorabend zum Besten, doch schon gegen Ende des Gesprächs wedelte ich hektisch mit den Armen, da meine beiden Prachtjungen, in diesem Fall die Großen gegen das Holz der Häuser Lehmbrocken, Stöcke und Steine warfen. Das hab ich dann mal glatt verboten. Wieder alles doof. Ich stromerte so durch den Garten und sah mir die Anlage und die Wachteln an. Da kam schon der Mann mit Emil und Ben im Schlepptau, stellte sich zu mir vor den Käfig. Eine Wachtel sah gar nicht gut aus. Und wenige Stunden später war sie auch schon tot. Hätte das wirklich sein müssen? Heute? Ausgerechnet wenn wir hier sind? Das Tochterkind sah unglaublich unglücklich aus. Also später. Bis dahin waren es noch drei Stunden. Es war 12Uhr, als wir wieder rein gingen und der Kindervater erst feststellte, dass sein Laptop keinen Strom mehr hatte und dann mühsam unsere Kinder bespasste, damit ich an meinem Tag in aller Ruhe lesen konnte, was ich ungeachtet dessen sehr genoss, also das Lesen und das Regenprasseln über mir am Fenster, nicht die durch Langeweile oder Hunger verursachten Unterbrechungen dieser Aktivität. Das mit dem Hunger ließ sich mit Honigbroten beheben, dass mit der Langeweile dank des Regens eher weniger. Das Ende der Mittagspause leuteten erneut alle Luftballons im Bett ein und ein Ben, der hinter Tom die Treppe runter kam und verkündete: „Ich kacker dir gleich auf deinen Kopf!“ Als ich gerade so einen “Was haben wir bloß falsch gemacht?!”- Moment hatte, erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig an das vorhin angeschaute Video auf dem Smartphone über den kleinen Maulwurf, der in Erfahrung bringen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hatte.
Gegen 15Uhr ließ der Regen nach und das Leben in der Wachtel leider auch. Wir waren alle etwas betroffen, war sie doch gestern noch ganz vergnügt gewesen, zudem außerordentlich lebendig. Was wir an dieser Stelle nicht wussten war, dass keine vierundzwanzig Stunden später eine weitere Wachtel sehr verdächtig auf der Seite liegen würde, aber deren Tod erlebten wir dank der Abreise nicht mehr.
Die Anlage war groß und die Fotos die ich am Vormittag im Regen gemacht hatte, wollte ich noch mal aus der trockenen Perspektive schießen. Eine Weile lief ich den Kindern hinterher, die begeistert das kleine Wäldchen nebenan erkundeten. Überall wuchs Springkraut und wir hatten natürlich unsere Freude daran, die kleinen Samen hüpfen zu lassen. Im kleinen Waldstück lagen überall Stöcke und es knackte herrlich unter den Schuhen, als stünde man vor einem Lagerfeuer. Ich bekam sogar Lob für meine hervorragenen Knackkünste vom großen Sohn: “Boah, Mama! Du kannst das aber laut!” Ich genoss die Bewunderung in den Augen meines Kindes und schwieg still über den schwerwiegenden Grund für mein angebliches Talent. Überall machte ich Fotos und freute mich schon auf die Erinnerungen, die wir so mitnehmen würden können. Emil saß eingekuschelt in seinem Kinderwagen, wir standen am Bach inmitten von nassem Laub, Nebel, großen und kleinen Äste auf dem Boden und ließen uns Zeit, wartend auf meine Schwiegereltern, Heide und Jörg und Schwägerin Karen, die dank eines Staus statt einer Stunde nun schon drei unterwegs zu uns waren.
Als diese dann eintrafen, aßen wir auf der Terrasse des Wasserhauses gemütlich zusammen den mitgebrachten Kuchen mit Sahne und Heide befüllte den Kühlschrank mit allerlei Köstlichkeiten. Viel Zeit blieb uns nicht, denn dank der langen Anfahrt brachen alle drei alsbald wieder auf. Wir blieben müde mit den Kindern zurück, machten eine richtig leckere Brotzeit und sahen uns Harry Potter dank des mitgebrachten Ladekabels von Jörg an. Wobei eher die Kinder den Film ansahen, ich lag mehr halb auf dem Tisch, nachdem dieser abgeräumt war und ließ schlapp meinen Finger über das Iphone wandern, so dass ich Twitter nachlesen konnte. Als dann alle Großen endlich im Bett waren und wir Eltern auch sofort ins Bett hätten gehen können, erwachte Emil draußen im Kinderwagen und war wach. Wach und müde verträgt sich überhaupt nicht und so versuchten wir beide, Emil in der unvertrauten Umgebung zu überzeugen, dass er eigentlich auch ganz müde wäre. Nach zwei Stunden und an der frischen Luft gelang uns das dann auch. Als er endlich wieder schlief und wir gerade in unser Bett fallen wollten, erwachte das Tochterkind und teilte uns mit, es hätte Fieber. Es war im Dunkeln nicht festzustellen, ob das den Tatsachen entsprach, aber der liebste Vater meiner Kinder, kletterte mit letzter Kraft den Baumstamm nach oben und blieb die ganze Nacht über schlafender Weise bei den Kindern. So verbrachte ich diese letzten Stunden im Baumhaus allein mit Emil im großen Bett ohne Blick in den Sternenhimmel, die Wolken versperrten den Ausblick.
Ein ganz und gar unperfekter Tag. Eigentlich ist es genau das, was ihn so schön machte. Ich hatte das bekommen, was ich mir gewünscht hatte, einen Tag mit meiner kleinen großen Familie.
Aber ich hatte an diesem Tag, als die Wachtel starb nicht mehr viel Zeit groß darüber nach zu denken, denn ich war unglaublich müde…

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