Geschichte trifft Realität

Ich lese gern Weltkriegsliteratur, hauptsächlich Romane- in verschiedenster Form. Ich verschlinge all das, seit Jahren, schon seit dem Jugendalter. Ich behalte jedes Detail, in meinem Kopf so viele Bilder, jedes gelesene Buch, wie ein kleines Puzzleteil, mit diesen vielen Teilen bekomme ich vielleicht unter Umständen an meinem Lebensende ein großes Bild zustande…

Und was mich gerade in diesem Jahr in den letzten zehn Büchern in Atem hielt, zusammen zucken ließ, ist die Zeit vor dem Krieg. Wenn alles sich nur allmählich zuspitzte, so langsam, wie viele Menschen nicht wirklich kommen sahen, was dann folgte.
Vielleicht waren da einige, die dachten in dieser wirtschaftlich wirklich miesen Zeit, da wäre endlich einer, der da was anpackt, endlich einer, der mal was verändern will, vielleicht. Das mit diesen antisemitischen Bemerkungen, kann er ja nicht allzu ernst meinen. Als der Einfluss wuchs und der pöbelnde, schreiende, braune Mob umher schlägerte, dachten so so viele Menschen, man solle ihnen einfach nur genügend Zeit lassen sich selbst zu entlarven, gib denen nur etwas Zeit und dann sind die weg vom Fenster, die könne man doch unmöglich ernst nehmen. Die würden sich nicht halten.
Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte der Nazis, ob zu Beginn, mittendrin oder kurz vor Kriegsende, vielleicht sogar danach, dachten so viele, es könne ja nicht noch schlimmer kommen, aber das kam es! Immer! Nicht nur verprügelt, eingesperrt, bedroht, verjagt, unerwünscht, ausgeschlossen, mit Berufsverbot belegt, zusammengepfercht, misshandelt- „Die können uns doch schlecht alle umbringen!“- und „später“ wahrhaftig ermordet. Es gab unzählige Übergriffe, Enteignungen, das alles war so perfide, so ausgeklügelt, Flucht war irgendwann unmöglich.
Und auch die freie Meinungsäußerung der „Deutschen“ war nicht mehr möglich. Du bist ins Lager gekommen, wenn du Flugblätter gedruckt hast. Ist das heute ein Verbrechen? Kann nicht ein jeder (ungefragt und ungeniert) seine Meinung im Internet kundtun, ohne abgeholt zu werden?! Spenden wofür er will, ohne dafür verfolgt und eingesperrt zu werden? Gehen zu wem er wann will, ohne geächtet zu werden? Das ging damals nicht, und diese angeblich alternative Partei, die will genau dahin zurück! Die bedroht Menschen, verbietet ihnen den Mund und möchte sie nun verfolgen.
Ich war heute wählen. Und ich hatte Angst seit gestern und schlief schlecht. Ich wusste, nein ich ahnte viel mehr, mit klarem Blick, dass meine Filterblase, in der ich mich bewege und lebe, einfach zu gut war, denn wenn ich unter kritischen Posts im Netz die Kommentare las, wurde mir übel. Soviel Hass. Unverständnis, Blindheit und so wenig Weitblick.

Ich wohne in einer Stadt, in der eine große, bekannte, deutsche KZ- Mahn- und Gedenkstätte steht. In diesem KZ und auf dem Weg dorthin haben schätzungsweise etwa 41.500 Menschen ihr Leben verloren. Zwölf lange Jahre war es geöffnet und diente – vor allem in seinen Anfangsjahren, als die NSDAP ihre Macht festigen wollte – zur Inhaftierung und zur Abschreckung politisch Andersdenkender.
Als Ende letzter Woche eine Frau von Storch hier in dieser Stadt eine Rede halten durfte, war mir zum Übergeben. Wie kann so etwas möglich sein? Jemand der so menschenverachtend denkt, darf hier sprechen. In unserer Demokratie darf sie hier sprechen und strebt nach einer neuen Form der Diktatur, das ist absurd.

Ich kann nun natürlich den Kopf in den Sand stecken und jammern und so tun, als überrasche mich das Wahlergebnis, was es zum Teil natürlich trotzdem tut, aber ich werde weiterhin meine Kinder aufklären, all mein angelesenes Wissen mit ihnen teilen, ihnen erzählen und nichts auslassen, nichts beschönigen und demaskieren, und sie weiterhin zu weitsichtigen, mitfühlenden, klugen Menschen erziehen, die mit diesem Wissen und den Gedanken durchs Leben getragen werden und all das vielleicht an den richtigen Stellen teilen, so wie wir Eltern das tun.


Wir sind nicht stumm. Wir sind laut. Ehrlich, realitätsnah und menschlich. Und wir sind nicht allein.