Heute vor einem Jahr


Vor einem Jahr bin ich nach Berlin gefahren, weil meine Mama im Sterben lag. Es war ein Mittwoch. Noch wenige Tage vorher, sah es viel besser aus, wir waren erschüttert wegen der Metastasen, die wir schon kannten. Aber irgendwie hoffnungsfroh, dass sie und wir mit ihr dank Bestrahlung und Chemo noch Zeit hätten. Am Wochenende hatte sie noch Besuch, ich wäre liebend gern ein Teil davon gewesen, aber ich hatte meine Anreise auf eine Woche später angekündigt. Freitag. Nur wenige Tage. Ich stand im regen Ausstauch mit meiner Schwester. An diesem Mittwoch schrieb sie mir kurz vor 11Uhr, dass die Ärztin gerade meiner Mama in ihrem Beisein gesagt hätte, dass sie auch Metastasen im Kopf hätte. Das war ein so schlimmer Schlag, irgendwie hat das alles verändert, auch bei ihr, ich weiss es natürlich nicht. Und es ging ihr immer schlechter. Ich schrieb mit Nils hin und her, gab diese schreckliche Nachrichten weiter und musste gleichzeitig los, im Kindergarten warteten um 12Uhr zwei Kinder auf mich (und Lilou). Ich koodinierte alles nebenher und kam viel zu spät im Kindergarten an. In der Schule waren die Kinder für die kommenden Tage beurlaubt, und der Nachmittagsunterricht von uns abgesagt. Die großen Zwei kamen mit unseren anderen Mittagskindern also Heim, morgen wollten wir fahren. Alle gemeinsam. Wir hatten die Schwiegermama schon gefragt, sie würde die beiden Kindergartenkinder zu sich nehmen. Alle anderen wollten mit, auch Emil. Lilou wurde noch oft gestillt, sie hatte gerade erst eine Flasche kennen gelernt. Aber im Krankenhaus mit ihr sah ich mich nicht. Ich hab Mittag gekocht, die Kinder aßen, als sie kurz nach 13Uhr aus der Schule kamen, Nils war noch auf dem Heimweg, war früher gegangen. Die Kinder waren ganz durch den Wind, weinten, es war ein einziges Gefühlschaos. Ich hatte nicht genug Arme. Streit war vorprogrammiert. Ich hatte Angst, dass alles was ich tue Henry in meinem Bauch gefährdet, aber ich hatte noch viel mehr Angst *zu spät* zu kommen. Vor 14Uhr schrieb mir meine Schwester, es ginge Mama immer schlechter, sie warten mit mehr Morphium bis mein Papa da ist. Aber länger hält sie es nicht mehr aus. Man wisse dann nicht was wie schnell passiert. Es war unvorhersehbar und gleichzeitig unaufhaltsam. Es war wie eine schwarze Welle, die sich bedrohlich aufbaute und über uns jeden Moment zusammen zu brechen drohte. Ich bekam dann ein Video, aus dem Krankenhaus. Und als ich es ansah ist irgendwas in mir zerbrochen. Ich hab geweint und ich wollte sofort los. Ich weiss bis heute nicht wie, aber ich hab eine Tasche gepackt für Anton und Zelda, die Oma schon geholt hatte, ich habe mich zu einer Entscheidung durch gerungen, noch heute, jetzt sofort nur mit Zoe und Tom zu fahren im Zug, die am längsten wach sind, packte dafür eine Tasche und packte eine Dritte für Lilou, Emil, Ben, Noah und Nils für den kommenden Tag und deren Abreise nur wenige Stunden nach uns um 6Uhr. Die erste Nacht ohne Lilou für mich, aber ich käme erst nachts in Berlin an. Und mit Lilou hätte ich nicht so frei handeln können. Zwischen 16 und 17Uhr ging es nach München rein und ab in den Zug. Ich hatte mein Bahncard vergessen, aber eine nette Zugbegleiterin, die sie sich online bestätigen liess. Im Zug buchten wir erst Hotels. Es war unheimlich schwierig auf die Schnelle etwas zu finden und dazu mit zu wenig Ortskenntnis und dann für eine Großfamilie. Mit dem Sprinter waren wir zügig am Berliner Hauptbahnhof und stiegen dort in ein Taxi und fuhren direkt zum Krankenhaus, Erleichterung sie lebend zu sehen, mischte sich mit Verzweiflung sie so zu sehen… Nach einer Begrüssung meines Vaters und meiner Schwester, ein paar müden Worten, brachen sie nach Hause auf. Letztendlich war es gut, dass ich die Kinder dabei hatte und sie ins Hotel bringen musste, irgendwie schaffte ich es mich zu lösen und fuhr mit dem Taxi ins Hotel. Dort checkten wir ohne menschlichen Kontakt modern ein und verbrachten ein paar Stunden zu Dritt in einem einzigen Bett, das noch frei war, um kurz nach 6Uhr stahl ich mich aus dem Bett und liess die beiden Kinder allein, fuhr mit Ubahn zurück zum Krankenhaus, und sass am Bett meiner Mama, ganz allein. Auch wenn sie wenig da war, war das noch die Zeit, die ich mit ihr ganz allein hatte. Nur ein paar Stündchen, mehr blieb mir nicht, ich musste abermals zurück zum Hotel, die Kinder einsammeln, auschecken und zum Hauptbahnhof fahren. Dort aßen wir was, Nils kam an, wir tauschten quasi Kinder, er fuhr mit Zoe, Tom und Lilou ins Hotel erst einchecken, eigentlich hätte ich das auch gemusst, ich weiss nicht mehr wie er das gemacht hat und kam dann nach zum Krankenhaus. Jeder konnte so noch einmal die Oma sehen, mit den Augen realisieren was gerade innerhalb von wenigen Tagen passierte. Danach fuhren, ausser mir, alle ins Hotel. Für die Kinder ein wilde Zeit. Ein Hotelzimmer für sich allein. Im Zweiten war Nils mit Lilou und Emil. Wir drei im Krankenhaus wechselten uns nun immer ab mit Handhalten… gingen mal ein paar Schritte. Es war ein kleiner Mikrokosmos und so unwirklich, dass das gerade wirklich passiert. Ich weiss auch noch genau wie das Krankenhaus aussah, welche Socken meine Mama trug. Es ging ihr kontinuierlich schlechter in so einem unfassbaren, unverarbeitbarem Tempo… was wir nicht wissen konnten, es waren wirklich ihre allerletzten Stunden. Den nächsten Morgen würde sie nicht mehr erleben. Sie hat gewartet bis ich gerade mit ganz viel Überredungskunst und viel Zeit für den Abschied meinen Vater und meine Schwester nach Hause geschickt hatte zum Schlafen, ich würde Nachtwache halten, hab ich gesagt. Das war nicht mehr nötig. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht rechtzeitig Bescheid sagen würde und so kam es leider, beide waren gerade zur Tür raus in den Regen, nur eine Schwester war noch da und ich- und dann war das eingetreten, was wir unserer Mama gewünscht hatten, dass sie nicht mehr lange leiden müsste, sie hörte für immer auf zu atmen.

Auch diese Erleichterung über das Ende ihrer schlimmen Schmerzen, mischte sich, diesmal mit unfassbarer Trauer und Fassungslosigkeit.  

Morgen dann ein Jahr ohne sie. 

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