Weil sie fehlt…


CN/TW: Tod

Ich frage mich, warum ich mir zur Zeit immer zielsicher die Bücher heraus suche, in denen jemand stirbt. Meist an Krebs. 

Natürlich hat auch die Zeit mit meinem Vater mich aufgewühlt. Mit ihm fehlt die Routine. 

Nach dem Tod meines Schwiegervaters vor bald drei Jahren habe ich meine Schwiegermama unzählige Male gesehen, auch meine Schwägerin regelmässig. Wenn wir uns also sehen, ist es nicht so als sässen wir zusammen und würden immerzu an den plötzlich tödlich Verunglückten denken, an die guten wie die weniger guten Erinnerungen. Auch mein Vater und meine Schwester hatten ihre Routine, stützten sich gerade im ersten Jahr gegenseitig? Meine Schwester kam jede Woche, war für unseren Vater da, kochte, putzte und zeitgleich verbrachte sie dort Zeit mit ihren zwei zauberhaften Kindern, vielleicht gab ihr diese Routine Halt? Ich war natürlich nicht dabei, aber es war das was ich von Aussen sah, das was ich vielleicht meine gesehen zu haben.

Meinen Vater habe ich seit dem Tod meiner Mutter vier Mal gesehen, also es gab vier Treffen an mehr Tagen. 

Nach den Stunden im Krankenhaus, in denen wir uns abwechselten mit Wache am Bett halten, ihre Hand hielten und durch die Flure tigerten, nicht fassen konnten, was gerade wirklich passierte, ich sie zurück holte als sie aufhörte zu atmen, panisch mit meinen Fingern auf meinem Handy, die nicht gehorchten und mich heute frage, ob das richtig gewesen war, meine Schwester aus dem Taxi, meinen Vater aus dem Auto geholt zu haben, zurück ins Krankenhauszimmer, in dem unsere tote Mama lag, seine Frau, sahen wir uns das nächste Mal, nach meiner unserer Abreise zwei Tage später erst wieder zur Beerdigung ein paar Wochen später. In der Nacht vor dem ersten richtigen Lockdown ging es zurück aus Brandenburg und Berlin nach Bayern. Danach sollte es fast ein Jahr dauern bis wir uns wieder sahen, das erste Mal nach ihrem Tod: der erste Todestag. Da waren wir wieder zusammen. Ein paar Monate später besuchte mich mein Vater mit meinem Nennonkel an der Ostsee und ein Jahr später wieder. Ich kann also an einer Hand abzählen wie oft wir uns bis hier hin gesehen haben. Und wenn wir uns sehen, dann ist da Schmerz und offene Wunde. Es fehlt die Routine nach vier Mal Wiedersehen. Eine Unbeschwertheit, und das obwohl mein Vater ein Mann ist, mit dem man sich gut unterhalten kann. Daran liegt es nicht. Es katapuliert mich ein Stück zurück, als alles aus den Fugen geriet und die Abwesenheit meiner Mutter leuchtet so auf, in der Anwesenheit meines Vaters. Es tut einfach weh. Es ist als hätte sich die Zeit gekrümmt, als hätten sich Raum und Zeit gefaltet, und würden genau dort wieder einsetzen, nach ihren Tod am 20.02.2020 und nicht jetzt im Jahr 2022. 

Zeit heilt nicht alle Wunden, aber man schlägt doch eine Brücke in ein Danach. Das fällt mir mit meinem Vater so schwer. Weil sie fehlt. Und ich wünsche mir so sehr, dass auch wir, mein Papa und ich ein neues miteinander entdecken, mit der Zeit unsere Erinnerungen mehr und mehr werden und sich wieder noch mehr Leichtigkeit einschleichen kann.


Ich kuschel mich in meinen Loop, nehme immer meine rostrote mittlerweile mehrfach geflickte Strickjacke mit, wenn ich wegfahre, immer ein Stück Mama, nicht weil sie es mir geschenkt hätte. Es waren die letzten Dinge, die sie berührten. Niemand bringt einem etwas über das Sterben bei, es ist ein Tabu. Niemand spricht über Schnabeltassen, den Durst, die aufgerissenen Lippen und die kalten Hände von den kalten Infusionen und den Schmerzmittteln, die den Blutdruck senken. Ich pflegte ihre Lippen, gab ihr zu trinken und in Ermangelung einer Decke (Gott was bereue ich dieses Unvorbereitetsein) legte ich ihr meinen Loop und die Strickjacke über, versuchte sie zu wärmen. Und wunderte mich nur Stunden später noch über ihre Wärme, die sie ausstrahlte, obwohl sie längst nicht mehr bei uns war, wir mit ihr sprachen, obwohl ihre Seele schon gegangen war… Abschied nahmen und da war keine Berührungsangst vor ihren Körper, das war nur noch Liebe. 

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