„Hast du denn auch brav „Danke!“ gesagt?“
Ich möchte heute über etwas schreiben, was mir sehr am Herzen liegt. Es gibt um das oft von Erwachsenen eingeforderte „Bitte“, „Danke!“ oder eine Begrüßungsfloskel wie „Hallo!“ oder hier in Bayern „Grüß Gott!“ durch Kinder, die Ihnen begegnen, am besten dem Gegenüber dabei tief in die Augen sehen.
Wenn mir eine Höflichkeitsfloskel oder eine Begrüßungsfloskel so wichtig ist, -und ich nenne es absichtlich Floskel, weil es ja mit nichten darum geht, den anderen wirklich wahr zu nehmen oder sich zu kümmern, um dieses Gegenüber, denn wenn ich das täte,- müsste ich mich auch bei diesem mir wichtigen Thema der Höflichkeit oder Begrüßung mehr auseinandersetzen und anerkennen, dass es nun mal Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt, die das nicht können oder nur bedingt oder noch lernen. Zum Beispiel durch freundliches(!) Vorleben.
Es gibt sie aber eben, die Menschen die nicht neurotypisch sind, sondern neurodivergent. Diese Personen sind aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, zu jeder Tages und Nachtzeit genau das zu liefern, was neurotypische Menschen anscheinend können.
Eines unserer Kinder zum Beispiel, ich schrieb in der Vergangenheit darüber, hat/hatte Selektiven Mutismus, es verstummte (bei Fremden, siehe selektiv), sprach nicht im Kindergarten, nicht mit Besuch zu Hause und schon gar nicht unterwegs mit Fremden. Das Kind konnte es nicht, es wäre an dieser Stelle absolut ableistisch, dieses Kind zu verurteilen, weil es sich nicht artig bedankt hat für das Stück Geldwurst, (hier springen sowieso wir Eltern als gutes „Vorbild“ ein und tun das für unser Kind, bis es das vielleicht selbst tun kann) oder dafür, dass es nicht ordentlich grüßt, was ich auch stellvertretend getan habe, wie auf die Frage antworten: „Na, wie heisst du denn?!“
An dieser Stelle nochmal nachgefragt, sollen Kinder jetzt mit Fremden sprechen oder lieber nicht?!
Ich würde mal behaupten mindestens mehr als die Hälfte unserer Kinder ist neurodivergent. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht mehr weiter darauf eingehen, aber für solche Menschen können Kopfbedeckungen jeder Art, ein Smartphone, aber auch dicke Kopfhörer wahnsinnig wichtig sein, um gut durch den Alltag zu kommen. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun, sondern sind wichtige Strategien, auch für zum Beispiel hochsensible Menschen.
Und es gibt auch Lebensphasen von Menschen, wenn sie trauern zum Beispiel, dann kriegen sie nicht mehr mit, was um sie herum passiert, auch das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun, sondern mit Überleben.
Ich empfinde es übrigens genau anders herum, ich finde unhöflich, wenn man einfach so von sich auf andere schliesst und davon ausgeht, was ich kann, können alle anderen auch.
Ich erzähle mal nur von mir, ein Beispiel. Ich war heute schon wieder im Freibad mit den vier Kleinen, diesmal war Zoe nicht dabei. Als wir kamen war es voll, und wir suchten einen Platz in der Nähe zu dem Ort, an dem wir sonst immer sitzen. Wir breiteten die Decke aus, stellten unser Zeug ab, ich half den Kindern beim Umziehen, cremte sie ein und dann passte ich auf, dass keiner von den Vieren(!) verschwindet oder Hilfe im Wasser braucht, auch wenns nur das Babybecken war. Irgendwann waren die Kinder eher beim Spielplatz, ich hatte mein Handy, las Nachrichten von der Schule, hörte eine Sprachnachricht vom Mann wegen Jobsuche, textete mit Zoe, weil sie nachkommen wollte (ich hatte ihre Karte fürs Bad), brainstornte wegen Emils Geburtstag, fragte wie es meiner Schwester ginge, die Probleme im Wochenbett hat und ja schrieb auch noch ganz kurz mit einer Freundin wegen Tüchern und sprach eine Nachricht ein, gibt noch zig Sachen, die ich mehr hätte machen wollen, irgendwann stand neben mir ein Mädchen und meinte: „Ich bins XYZ. (Zeldas Freundin.) Habt ihr gar nicht gemerkt, dass wir neben euch liegen?!“- „Nein.“ Denn als wir kamen war die Decke leer, seitdem hatte ich erst Kinder im Blick und dann hab ich lauter andere Sachen im Kopf gehabt. Aber ja, ich hätte dieses Mädchen nicht erkannt, ich hatte sie einmal als Besuch zu Hause bei uns. Ich hab mir ihr Gesicht noch nicht gemerkt. Und selbst wenn, kann es sein, dass ich es eine Stunde nicht checke, wer neben mir sitzt.
Obwohl Zelda und sie sich gut verstehen, hätte ich das Mädchen nicht erkannt und das nicht nur, weil mir schon so viele Freundinnen und Freunde im Laufe der Jahre über den Weg gelaufen sind. Gleiches gilt für Namen, ein Elternabend und alle stellen sich vor? Ich merke mir nicht einen Namen der Anwesenden, ich kriegs leider nicht hin. Ich wünschte es wäre anders. Das wird oft ganz schön peinlich so wie heute. Das Mädchen war aber noch nicht fertig, sprach davon, dass sie Zelda gern mal wieder treffen würde, aber ich ja nie ans Telefon gehen würde und sie deshalb nicht mehr anriefen. Ja das stimmt, ich hasse telefonieren und gerade in der ersten Trauerphase als dieses Kind sich mit Zelda verabreden wollte, habe ich das Telefon an den Mann weiter gereicht, wir haben ein Treffen selbst dann möglich gemacht, aber ich konnte und ich kann nicht gut telefonieren. Ich habe mir mühsam antrainiert, Termine telefonisch auszumachen, aber ich schliesse mich dazu im Bad ein, allein schon wegen der Lautstärke drumherum, aber mir klopft das Herz wirklich sogar bis zum Hals, wenn ich einen simplen Termin irgendwo ausmachen muss, etwas das ich gern an den Mann abgebe. Oder Mails mit Lehrkräften, es raubt mir soviel mehr Energie als neurotypischen Menschen, es ist für mich viel schwieriger und kostet mich mehr. Und wenn eben dann jemand vor der Türe steht, kann es sein, dass ich keine Energie mehr für Smalltalk habe und mich verstecke, ist peinlich, aber ich habe aktuell und sonst auch 24/7 Kinder um mich herum, und das meine ich ernst. Es ist 22Uhr, ich liege neben Henry und wenn ich irgendwann runter gehe, sind da Teenager bis ich ins Bett gehe und wieder Henry neben mir liegt. Deswegen ist es für mich doppelt schwer zu akzeptieren, dass ich gerade kaum bis gar keine ruhige Minute unterm Tag habe, in denen ich regenerieren oder die Verantwortung richtig abgeben kann und nicht nur Hilfestellung bekomme.
Es gibt sie also wirklich echt diese Menschen, die das was andere so einfach liefern, gar nicht oder je nach Tagesform ganz gut hinbekommen.
Ich kann Menschen sehr gut verstehen, wenn sie verletzt sind und sich zu wenig oder gar nicht gesehen fühlen, wenn andere zum Beispiel nicht grüßen, aber dann ist es vielleicht mal spannend zu gucken, warum ist das so und kann ich mein mir fremdes Gegenüber dafür wirklich verantwortlich machen?
Vielleicht kann man das einfach mal in Kopf und Herz behalten, wenn man sich mal wieder reflexartig darüber ärgern möchte, wie unerzogen, unmöglich oder unhöflich andere Menschen seien.

7 Kommentare
Lajulitschka
Danke dir. Hilfreicher Text. Bin so denke ich neurotypisch und da ist so ein Impuls für nen Blick über den Tellerrand echt Gold wert.
Sonnenblume
Lese deine Texte gerne und finde mich in vielem wieder.
Zu deinen heutigen Text fällt mir mein geliebtes Kafka-Zitat ein:
„… Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen vor einander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle.“
Isabella
Ich kann deinen Text sehr nachempfinden. Ich selbst und auch meine Kinder, sind neurodivers.
Jahrelang machte man es meinen Kindenr in einer Wchule mit vorwiegend oder ausschließlich teutonischen Kindern schwer. Sie lernten exzellent (hohe kognitive Intelligenz) aber konnten in der Grundschule mit niemandem Kontakt aufnehmen, hielten Bilckkontakt nicht aus, meldeten sich nie von alleine zu Wort. Zum Glück gab es schriftliche Tests, um sich zu „beweisen“. :/ Unser Leben ist geprägt von Autismus im Spektrum/Asperger und wir brauchen (der/die eine mehr, der/die eine weniger) die immergleichen, vorhersehbaren Abläufe, Struktur, wenig Menschen, viel Ruhe.
Darüber hat sich bisher zum Glück noch niemand geklagt. Ich mache es wie du und übernehme jede Antwort und frage mich nach der 5. Frage oft, ob sie denn nicht endlich akzeptieren wollen, dass mein Kind nicht spricht oder sprechen kann.
Mir fehlt oft das Verständnis, wenn eines meiner Kinder (immer das gleiche Kind) komplett ausflippt, wenn es in die Enge getrieben wird, man ihn herausfordert und es sich dann nicht regulieren kann. Man merkt es ihm nicht gleich an, aber in heiklen zwischenmenschlichen Situationen kommt es dann zum Weinen/Schreien und Flucht. Das Kind wurde schon mehrfach für sein Verhalten bestraft und geächtet. Wir wechselten Schule usw. Eine never ending Story, die mich oft sehr verzweifeln lässt und worunter auch oft die Familie und ihr Gefüge leidet.
Danke für deine Offenheit. Nur weil man selbst betroffen ist, ist man nicht davor gefeit, nicht trotzdem mal einen anderen Menschen in seinem Sein, unwissend, auf Unhöflichkeit oder schlechtes Benehmen zu reduzieren.
Man muss sich doch stets und immer wieder vor Augen halten, dass wir eben nicht alle gleich sind und jeder wie er ist, sein darf!
Ich hoffe, du kannst sehr bal einen Alltag leben, der dir Kleine Pausen ermöglicht! Es ist so wichtig für die eigene mentale Leistung, Resilienz und Psyche. Erholungsphasen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du dich irgendwann richtig erholen kannst. Aber ich wünsche es dir von Herzen. Ich denke mir oft schon, ich bin einfach erledigt. Wie du dich oft fühlst, kann man sich vermutlich gar nicht ausmalen. Alles Liebe! ????
Ulli
Vielen Dank für die Perspektiverweiterung!
Jetzt tut es mir richtig leid, Dich damals an der Promenade bei den Trampolinen angesprochen zu haben. Nur wie mache ich es richtig, denn niemand hat ja ein Schild umhängen, ob es gerade gut ist, angesprochen zu werden oder nicht?
Es ist so wertvoll, hier seinen Horizont zu erweitern und diese Gedanken mit in die analoge Welt zu nehmen und zu versuchen, es ein bisschen besser zu machen. Vielen Dank dafür!
kassiopeia
Du Liebe! Was du aus dem Text mitnehmen kannst ist nicht, andere nicht mehr anzusprechen und ja da gibt es wohl keinen echten passenden Moment, mir war es lieber angequatscht zu werden als nur beobachtet, und es haben sich daraus ja Gespräche entsponnen, was schön ist. Und neurodivergente Menschen müssen irgendwie unter neurotypischen Menschen leben, das heisst, wir werden angesprochen, angerufen usw. Was du aber super gern mitnehmen kannst, ist dass ich dich vllt bei einem erneuten Treffen nicht erkennen würde und dann denkst du nach dem Lesen dieses Texts vielleicht nicht gleich, „Was für ne eingebildete Schnepfe, die grüsst mich gar nicht, dabei kennen wir uns doch!“, sondern „Ah! Sie erkennt mich einfach nicht.“, dann sprich mich an und im günstigsten Fall bin ich nicht so verspult und weiss wer du bist und am Ende des Gesprächs noch wie du heisst ???????? Ich hab mir Zeldas Freundin gestern auch nochmal ganz genau angeguckt und versucht mir ihr Gesicht einzuprägen, weil wir ja auch lange und mehrmals miteinader gesprochen haben. ????
kassiopeia
Danke für deine Offenheit, ich fühle vieles davon so sehr! Und lasse dir auch mal eine Umarmung da, zumindest virtuell, wenn du magst! ????
kassiopeia
Danke für dieses Zitat! Und dein liebes Kompliment! ????