Abschied.

Ich betrat den Raum mit dem Rücken zum Fenster. Als ich die Treppe empor gestiegen war, sah
ich offene große Türen und viele Stühle. Dort würde es sein. Wenn ich nur hinein gehen würde,
bekäme ich wohl nie wieder Luft. Also ging ich mit dem Rücken hinein, mit Blick zu meiner
Tasche, holte die Sterne der Kinder heraus, vier Stück, nahm meinen Text und erst dann drehte
ich mich um…

Ich erstickte beinah an meinen Tränen. Ich konnte es nicht verstehen. Mein Herz blieb stehen. Es
war nicht richtig. Mein Kind lag dort, soweit weg. In einer Kiste. Vor mir. Es lag dort. War nicht mehr
bei mir. Heraus gerissen aus mir und dem Leben. Und es lief.

Ich nahm Platz, hatte mein kleinstes Kind auf dem Schoß und meinen Mann an meiner Seite. Meine
Große saß auf dem Schoß ihrer Oma. Und weinte sehr bald. Mein großer Sohn saß bei seiner
Tante und wurde aufgefangen. Der kleine Sohn saß bei seinem Opa und wurde gehalten. Sie waren
da.
Auf der anderen Seite saß der Pfarrer, der alle unsere Söhne getauft hat. Erst am Vorabend hatten wir
ihn erreicht und er war gekommen. Er war da.

Das Lied, das uns erst am Montag in den Schoss gefallen war, lief im Hintergrund. Es begann. Wir
mussten uns verabschieden. Ob wir wollten oder nicht.

Der Weg bis dahin war weiter als erhofft. Niemand hatte uns gesagt, dass unser Kind, noch einmal
nach München müsste. Wir wissen auch noch immer nicht, ob bei dieser Untersuchung, von der
wir bis Dienstag Mittag nicht wussten warum sie gemacht werden muss, irgendetwas festgestellt
wurde. Wir standen nur fassungslos am Montag da und erfuhren nur von einem irritierten Bestatter,
dass unser Kind „im Laufe des Tages“ in München eintreffen würde. Es zerriss mir das Herz. Ich
wollte nicht, dass mein Kind noch gequält wird oder durch die Gegend gefahren wird. Ich, wir
atmeten auf, als wir am Dienstag Mittag erfuhren, dass unser Kind morgen zurück käme und endlich
hier zur Ruhe kommen würde.

Erst am Vormittag fand ich mit einer lieben Freundin eine weiße Magnolie und mittags hatte ich
noch Blumen gekauft. Ein kleiner Strauss für ein Kindergrab. Für unser Kind. Nicht zuviel. Eine
weiße Rose nur, ein paar weiße Begleiter. Für jedes Kind eine Blume zum (fest) Halten und mit geben.
Also saß unser jüngstes Kind bei uns, wedelte mit der Blume und haute uns damit, während er
unentwegt plapperte. Es tat so gut. Eine Geschwisterbeerdigung. Mit einem lachenden Auge und
einem weinenden. Es war absurd. Unwirklich. Und tat weh.

Den Text den ich las, hat vielleicht niemand gehört. Aber ich habs geschafft. Ich habe ihn gelesen.

„Beim Aufgang der Sonne und bei ihrem Untergang erinnern wir uns an dich;
Beim Wehen des Windes und in der Kälte des Winters erinnern wir uns an dich;
Beim Öffnen der Knospen und in der Wärme des Sommers erinnern wir uns an dich;
Beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes erinnern wir uns an dich;
Zu Beginn des Jahres und wenn es zu Ende geht, erinnern wir uns an dich;
Wenn wir müde sind und Kraft brauchen, erinnern wir uns an dich;
Wenn wir verloren sind und krank in unserem Herzen, erinnern wir uns an dich;
Wenn wir Freuden erleben, die wir so gern teilen würden, erinnern wir uns an dich;
So lange wir leben, wirst auch du leben, denn du bist nun ein Teil von uns,
wenn wir uns an dich erinnern.“

(Ein jüdisches Gebet)

Auf meinen Wunsch hin, verließen alle den Raum. Ich war allein mit meinem Kind. Und noch
immer unfassbar. In diesem winzigen Särglein lag mein Kind. Vor mir. So weit weg. Schon.
Ich berührte den Sarg, als wäre es mir dadurch noch für einen kleinen Augenblick ein Stück
näher. Ich weinte. Und ich konnte den Punkt nicht finden an dem ich bereit gewesen wäre,
diesen Raum und letztendlich mein Kind zu verlassen. Ich sah unten meine Kinder gehen.
Draußen schien die Sonne. Während die herunter gelassenen Rollos den Tag dunkelten.
Ich konnte nicht gehen. Ich konnte, ich wollte mein Kind nicht allein zurück lassen. Aber ich
musste. Irgendwie. Ich dachte, wenn man nur genug geweint hätte, käme so ein Moment.
Aber der kam nicht. Ich holte meine Tasche von vorderen Stühlen. Ging noch einmal nach vorn,
wollte mich verabschieden und zur Tür gehen, irgendwo die Kraft dafür hernehmen. Aber
als ich in der Tür stand, tat es zu sehr weh. Ich stand genau in der Schwelle. Sah das helle
Licht vom Hof und mein Kind in der Dunkelheit, umringt von Kerzen. „Ich werde dich nie
vergessen. Ich werde dich immer lieben.“

Und ging ins Licht. Zurück ins Leben.

Ohne dieses Kind.

..

„Ich trage dein Herz. Ich trage es in meinem Herzen.“

..

Auf dem Friedhof zündeten wir an der Stelle wo bald ein Stein für uns liegen wird, zwei Kerzen
an. Denn auf dem Stein werden zwei Namen stehen. Herzkind und Manschgal.

Hand in Hand.

..

Am Abend setzten wir die weiße Magnolie in den Garten. Wir warten darauf, dass sie beide bald
blühen.

(Und ich möchte nie wieder eine kaufen müssen.)

..

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